Was sagt das humanitäre Völkerrecht?
Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) hat sich und den Akteur*innen/Organisationen in der humanitären Arbeit 1965 in Wien fundamentale Prinzipien gegeben, die 1986 in Genf angenommen und seither in mehreren Resolutionen der UN-Generalversammlung bekräftigt und erweitert wurden.
Auch die Arbeit von Handicap International folgt diesen Prinzipien. Eine Betrachtung dieser zeigt, welches Spannungsverhältnis durch Maßnahmen des Counter-Terrorism für prinzipiengeleitete humanitäre Arbeit entsteht:
1) Menschlichkeit: Menschliches Leid soll überall und jederzeit verhindert und gelindert werden. Humanitäre Arbeit strebt danach, Leben und Gesundheit zu schützen und der Würde des Menschen Achtung zu verschaffen.
2) Unparteilichkeit: Humanitäre Akteure diskriminieren in ihrer Arbeit nicht nach Nationalität, Rasse, Religion, Alter, sozialer Stellung oder politischer Überzeugung. Handicap International konzentriert sich in seinen Bemühungen auf Menschen mit Behinderung, ist jedoch in seiner humanitären Arbeit dem Prinzip der Unparteilichkeit verpflichtet.
3) Neutralität: Als humanitärer Akteur nehmen wir zu keinem Zeitpunkt an Konflikten teil oder unterstützen eine Konfliktpartei. Die Zivilbevölkerung, aber auch Individuen aller Konfliktparteien werden unabhängig von den in Punkt 2 genannten Kategorisierungen bei der Minderung ihres Leids unterstützt.
4) Unabhängigkeit: Als humanitärer Akteur agieren wir unabhängig und werden nicht von staatlichen Interessen geleitet.
Besonders das Prinzip der Unabhängigkeit kann im Zusammenspiel mit vielen verschiedenen Partnerländern und jeweiligen nationalen Gesetzgebungen Schwierigkeiten für humanitäre Akteur*innen erzeugen. Solche Schwierigkeiten und Auswirkungen werden im Folgenden beispielhaft dargestellt.
Wie betrifft Counter-Terrorism die humanitäre Arbeit?
Die humanitäre Hilfe kann erschwert werden, wenn lokale Akteur*innen und Gruppen als terroristisch eingestuft werden. Um betroffene Menschen unterstützen zu können, muss Handicap International auch mit Gruppen sprechen, die Kontrolle über Gebiete ausüben, als de facto Behörden agieren und von Staaten als terroristische Gruppe klassifiziert werden. Beispiele hierfür sind die Hamas in Gaza oder Ansar Allah (Houthi) im Norden Jemens. Das ist zum Beispiel notwendig, um einen sicheren Zugang zu den Menschen zu verhandeln. Dies erfolgt stets im Sinne der Sicherheit der Mitarbeiter*innen von Handicap International, die vor Ort z.B. Hilfslieferungen durchführen, aber auch im Sinne der Menschen, die durch diese Hilfslieferungen unterstützt werden sollen.
Nationale und internationale Anti-Terrorismus-Gesetzgebungen verpflichten Handicap International, Partnerorganisationen zu überprüfen („vetting“), ob diese mit Gruppen zusammenarbeiten, die sich auf Terrorismus-Listen, wie der EU-Terroristenliste, befinden. Diese Maßnahmen sind nicht nur praktisch kompliziert durchzuführen, da es verschiedene nicht immer übereinstimmende Terrorismus-Listen gibt. Derlei Maßnahmen lenken auch die Aufmerksamkeit und Ressourcen humanitärer Hilfsorganisationen von ihrer eigentlichen Aufgabe ab. Schließlich widerspricht diese Überprüfung – das Vetting – auch den Prinzipien der humanitären Arbeit. Das Vetting eines potenziellen Partners vermischt das Prinzip der Menschlichkeit mit politischen Faktoren und ist aus unserer Sicht nicht vereinbar mit dem Humanitären Völkerrecht. Die humanitären Helfer*innen führen damit die Anti-Terror Politik von Staaten aus und werden einer großen Rechtsunsicherheit ausgesetzt.
Darüber hinaus sorgt die Anti-Terrorismus-Gesetzgebung dafür, dass internationale Banken ihre Tätigkeit in bestimmten Ländern und Regionen zurückfahren, um nicht selbst potenziell strafbare Handlungen vorzunehmen. Ganz praktisch kann dies bedeuten, dass humanitäre Organisationen große Mengen an Geld physisch in ein Land transportieren müssen, um vor Ort Güter für die Bevölkerung zu kaufen. Durch solche und vergleichbare Abläufe können Mitarbeiter*innen von humanitären Organisationen leicht Zielscheibe lokaler Kriminalität oder auch der als terroristisch eingestuften Organisationen selbst werden. In sehr ähnlicher Art kann dies auch den Import notwendiger Materialien und Hilfsmittel betreffen. So kann es vorkommen, dass internationale Speditionsunternehmen sich aufgrund der Einstufung einer Gruppe in einer Region aus ihrer Aktivität in dieser Region zurückziehen.
Die Leidtragenden dieser Anti-Terror-Maßnahmen sind besonders die Zivilist*innen, die durch die fehlende Kooperation mit lokalen Partnerorganisationen oder Schwierigkeiten beim Import von Gütern nicht mehr oder nur mangelhaft unterstützt werden können. Ein verheerendes Beispiel dafür war die Hungersnot in Somalia 2011, bei der aufgrund des beschränkten Zugangs humanitärer Organisationen etwa 260.000 Menschen gestorben sind.