Co-Preisträgerin Friedensnobelpreis

Counter-Terrorism und humanitäre Arbeit

Als humanitärer Akteur leistet Handicap International (Humanity & Inclusion) Nothilfe in Krisensituationen. Humanitäre Notlagen betreffen dabei häufig – wenn auch nicht immer – Regionen, die bereits mit vielfältigen Problemen konfrontiert waren. 

Ameens Bein musste nach einer Explosion amputiert werden. Er erhält Physiotherapie von HI.

Das Bein des 20-jährigen Ameens aus dem Jemen musste nach einer Explosion amputiert werden. Er erhält Physiotherapie von HI. Wenn Gruppen wie die Ansar Allah (Houthi) als terroristisch eingestuft werden, wird es für Hilfsorganisationen schwer, die nötige Unterstützung zu leisten. | © HI

Counter-Terrorism und humanitäre Arbeit

Als humanitärer Akteur leistet Handicap International (Humanity & Inclusion) Nothilfe in Krisensituationen. Humanitäre Notlagen betreffen dabei häufig – wenn auch nicht immer – Regionen, die bereits mit vielfältigen Problemen konfrontiert waren. 

In solchen Situationen ist es in vielen Fällen notwendig, dass Vertreter*innen von Handicap International auch mit nichtstaatlichen Akteur*innen sprechen und kooperieren, die die Kontrolle über ein Gebiet ausüben. Während solche Gruppen von manchen Staaten als terroristische Organisationen eingestuft werden, müssen wir als humanitäre Organisation sicherstellen, dass wir auch der Zivilbevölkerung in diesen Gebieten Unterstützung anbieten können. Nur durch unsere Gespräche mit allen Akteur*innen kann sichergestellt werden, dass auch alle Menschen in Not erreicht und unterstützt werden. Als humanitäre Organisation sind wir dabei sowohl der Einhaltung nationaler und internationaler Normen zur Terrorismusbekämpfung als auch der Ausführung unseres Mandats verpflichtet und müssen beides miteinander in Einklang bringen.

Was ist Counter-Terrorism?

Counter-Terrorism kann als „Terrorismusbekämpfung“ übersetzt werden. Das Ziel ist es, die Existenz und das Wirken von Terrorist*innen und terroristischen Organisationen einzuschränken und zu beenden. 

Was jeweils unter Terrorismus verstanden wird, ist in jedem Land aufgrund verschiedener politischer Interessen und Verpflichtungen unterschiedlich definiert. Auch die Vereinten Nationen konnten bislang keine international anerkannte Definition verabschieden. Das Ziel einer terroristischen Organisation ist, durch ihre gewaltvollen Praktiken Angst und Schrecken zu verbreiten und so ihre politischen Ziele zu verfolgen. Obwohl dieses auch auf staatliche Akteure und Regierungen zutreffen könnte, wird der Begriff meist als Beschreibung für nichtstaatliche Akteur*innen, also Individuen und Gruppen ohne internationale Anerkennung, verwendet.

Maßnahmen im Kampf gegen Terrorismus sind grundsätzlich ein legitimes staatliches Ziel. Doch muss es vereinbar mit dem Internationalen Humanitären Völkerrecht sein und die Durchführung von „prinzipiengeleitetem“ humanitären Handeln ermöglichen. 
 

©HI Somalia&Somaliland

Der direkte Kontakt zu den Begünstigen, wie hier in Somalia, ist sehr wichtig für die HI-Mitarbeiter vor Ort.

Was sagt das humanitäre Völkerrecht?

Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) hat sich und den Akteur*innen/Organisationen in der humanitären Arbeit 1965 in Wien fundamentale Prinzipien gegeben, die 1986 in Genf angenommen und seither in mehreren Resolutionen der UN-Generalversammlung bekräftigt und erweitert wurden.

Auch die Arbeit von Handicap International folgt diesen Prinzipien. Eine Betrachtung dieser zeigt, welches Spannungsverhältnis durch Maßnahmen des Counter-Terrorism für prinzipiengeleitete humanitäre Arbeit entsteht:

1)    Menschlichkeit: Menschliches Leid soll überall und jederzeit verhindert und gelindert werden. Humanitäre Arbeit strebt danach, Leben und Gesundheit zu schützen und der Würde des Menschen Achtung zu verschaffen.

2)    Unparteilichkeit: Humanitäre Akteure diskriminieren in ihrer Arbeit nicht nach Nationalität, Rasse, Religion, Alter, sozialer Stellung oder politischer Überzeugung. Handicap International konzentriert sich in seinen Bemühungen auf Menschen mit Behinderung, ist jedoch in seiner humanitären Arbeit dem Prinzip der Unparteilichkeit verpflichtet.

3)    Neutralität: Als humanitärer Akteur nehmen wir zu keinem Zeitpunkt an Konflikten teil oder unterstützen eine Konfliktpartei. Die Zivilbevölkerung, aber auch Individuen aller Konfliktparteien werden unabhängig von den in Punkt 2 genannten Kategorisierungen bei der Minderung ihres Leids unterstützt.

4)    Unabhängigkeit: Als humanitärer Akteur agieren wir unabhängig und werden nicht von staatlichen Interessen geleitet. 

Besonders das Prinzip der Unabhängigkeit kann im Zusammenspiel mit vielen verschiedenen Partnerländern und jeweiligen nationalen Gesetzgebungen Schwierigkeiten für humanitäre Akteur*innen erzeugen. Solche Schwierigkeiten und Auswirkungen werden im Folgenden beispielhaft dargestellt.

Wie betrifft Counter-Terrorism die humanitäre Arbeit?

Die humanitäre Hilfe kann erschwert werden, wenn lokale Akteur*innen und Gruppen als terroristisch eingestuft werden. Um betroffene Menschen unterstützen zu können, muss Handicap International auch mit Gruppen sprechen, die Kontrolle über Gebiete ausüben, als de facto Behörden agieren und von Staaten als terroristische Gruppe klassifiziert werden. Beispiele hierfür sind die Hamas in Gaza oder Ansar Allah (Houthi) im Norden Jemens. Das ist zum Beispiel notwendig, um einen sicheren Zugang zu den Menschen zu verhandeln. Dies erfolgt stets im Sinne der Sicherheit der Mitarbeiter*innen von Handicap International, die vor Ort z.B. Hilfslieferungen durchführen, aber auch im Sinne der Menschen, die durch diese Hilfslieferungen unterstützt werden sollen.

Nationale und internationale Anti-Terrorismus-Gesetzgebungen verpflichten Handicap International, Partnerorganisationen zu überprüfen („vetting“), ob diese mit Gruppen zusammenarbeiten, die sich auf Terrorismus-Listen, wie der EU-Terroristenliste,  befinden. Diese Maßnahmen sind nicht nur praktisch kompliziert durchzuführen, da es verschiedene nicht immer übereinstimmende Terrorismus-Listen gibt. Derlei Maßnahmen lenken auch die Aufmerksamkeit und Ressourcen humanitärer Hilfsorganisationen von ihrer eigentlichen Aufgabe ab. Schließlich widerspricht diese Überprüfung – das Vetting – auch den Prinzipien der humanitären Arbeit. Das Vetting eines potenziellen Partners vermischt das Prinzip der Menschlichkeit mit politischen Faktoren und ist aus unserer Sicht nicht vereinbar mit dem Humanitären Völkerrecht. Die humanitären Helfer*innen führen damit die Anti-Terror Politik von Staaten aus und werden einer großen Rechtsunsicherheit ausgesetzt. 

Darüber hinaus sorgt die Anti-Terrorismus-Gesetzgebung dafür, dass internationale Banken ihre Tätigkeit in bestimmten Ländern und Regionen zurückfahren, um nicht selbst potenziell strafbare Handlungen vorzunehmen. Ganz praktisch kann dies bedeuten, dass humanitäre Organisationen große Mengen an Geld physisch in ein Land transportieren müssen, um vor Ort Güter für die Bevölkerung zu kaufen. Durch solche und vergleichbare Abläufe können Mitarbeiter*innen von humanitären Organisationen leicht Zielscheibe lokaler Kriminalität oder auch der als terroristisch eingestuften Organisationen selbst werden. In sehr ähnlicher Art kann dies auch den Import notwendiger Materialien und Hilfsmittel betreffen. So kann es vorkommen, dass internationale Speditionsunternehmen sich aufgrund der Einstufung einer Gruppe in einer Region aus ihrer Aktivität in dieser Region zurückziehen.

Die Leidtragenden dieser Anti-Terror-Maßnahmen sind besonders die Zivilist*innen, die durch die fehlende Kooperation mit lokalen Partnerorganisationen oder Schwierigkeiten beim Import von Gütern nicht mehr oder nur mangelhaft unterstützt werden können. Ein verheerendes Beispiel dafür war die Hungersnot in Somalia 2011,  bei der aufgrund des beschränkten Zugangs humanitärer Organisationen etwa 260.000 Menschen gestorben sind.

© HI / Ibrahem Eishatali

Die HI-Sozialarbeiterin klärt die Menschen in Gaza über die Corona-Pandemie auf. Damit wir den Menschen helfen können, müssen NGOs auch mit Gruppen sprechen, die Kontrolle über Gebiete ausüben oder von Staaten als terroristische Gruppe klassifiziert werde

Was tut HI, um notleidenden Menschen weiter zu helfen?

Handicap International betreibt intensiv Advocacy-Arbeit, um Entscheidungsträger*innen für dieses Problem zu sensibilisieren und so grundsätzliche und klare Ausnahmeregelungen für die humanitäre Arbeit zu erzielen. Erste Ausnahmeregelungen dieser Art in Europa sind beispielsweise in die EU-Richtlinie 2017/541 eingeflossen, die EU-weite Mindeststandards für „Straftaten im Zusammenhang mit einer terroristischen Vereinigung und Straftaten im Zusammenhang mit terroristischen Aktivitäten“  definiert. Als Ausnahme adressiert Absatz 38 humanitäre Akteur*innen und klammert den Anwendungsbereich der genannten Verordnung explizit für die „Erbringung humanitärer Tätigkeiten durch unparteiische humanitäre Organisationen“  aus. Die Überführung in nationales Gesetz lässt auf sich warten. Einen inhaltlich ähnlichen Appell richtet auch die Resolution 2482 (2019) des UN-Sicherheitsrates an die Mitgliedsstaaten der UN.  Demnach sollen alle nationalen und internationalen Anti-Terror-Gesetzgebungen mit den internationalen Menschenrechtsnormen, dem internationalen Flüchtlingsrecht und dem humanitären Völkerrecht in Einklang gebracht werden. 

Trotz dieser ersten Erfolge, erlassen Staaten immer wieder Gesetzgebungen und Verordnungen, die es humanitären Akteur*innen erschwert, notleidenden Menschen in bestimmten Regionen effektiv Hilfe zukommen zu lassen. Handicap International wird sich weiter bei nationalen und internationalen Entscheidungsträger*innen für generelle und wirksame Ausnahmeregelungen von humanitärer Arbeit in allen Sanktionsregimen (Regelungen, die bestimmte Gruppen als terroristisch einstufen und eine Kooperation mit ihnen strafbar machen) einsetzen. 

Um diesen Einsatz stärker zu unterstreichen, ist Handicap International im Januar 2021 als Vereins-Gründungsmitglied Teil des Centre for Humanitarian Action (CHA) geworden. Handicap International wird sich in diesem Forum gemeinsam mit anderen humanitären Akteur*innen weiter für die klare und wirksame Formulierung nationaler und internationaler Ausnahmeregelungen für humanitäre Arbeit stark machen. Nur so können notleidende Menschen unabhängig von ihrer Nationalität, dem Aufenthalt in einer bestimmten Region oder der Kontrolle einer terroristischen Organisation wirksam erreicht und unterstützt werden.