In ihrem Positionspapier weisen die Unterzeichner*innen darauf hin, dass eine Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen ungeeignet sei, die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung angemessen zu berücksichtigen. Fehlende private Rückzugsräume, ungenügende Barrierefreiheit, fehlender Zugang zu behinderungsspezifischen Beratungsleistungen, unzureichende Betreuungsschlüssel und die räumliche Abgelegenheit vieler Einrichtungen stünden dem oft entgegen. Die Lebensumstände von Asylsuchenden mit Behinderung in Erstaufnahmeeinrichtungen widersprächen somit zentralen Prinzipen der UN-Behindertenrechtskonvention: der Achtung von Würde, Selbstbestimmung und Teilhabe. Erschwerend komme hinzu, dass Schutzbedarfe in Deutschland nicht flächendeckend und systematisch identifiziert werden und dadurch unsichtbar bleiben. Die Unterzeichner*innen fordern daher auch, ein Verfahren zur Identifizierung behinderungsspezifischer Schutz- und Unterstützungsbedarfe zu entwickeln. An der Verfahrensentwicklung und -implementierung sollten Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderung und Fachverbände beteiligt werden. Sofern die identifizierten Schutz- und Unterstützungsbedarfe im Rahmen der Unterbringung nicht umfänglich berücksichtigt werden können, müsse sich ein transparentes Auszugsmanagement anschließen, welches die Aufhebung der Wohnverpflichtung auf Basis von §49 Absatz 2 AsylG in die Wege leitet.
Infektionsrate in Sammelunterkünften besonders hoch
Besondere Relevanz erhält die Art der Unterbringung in der aktuellen zweiten Welle der Coronakrise. Die Gefahr für Menschen mit Behinderung, bei einer Covid-19-Infektion einen schweren Krankheitsverlauf zu haben, ist besonders hoch. Laut Robert-Koch-Institut waren bis September 2020 insgesamt knapp 200 Ausbrüche in Flüchtlingseinrichtungen zu verzeichnen. Mit durchschnittlich 20,8 Infektionen pro Ausbruchsgeschehen haben Flüchtlingsunterkünfte die höchste Infektionsrate.* Aktuelle Corona-Ausbrüche wie in Hamburg oder Essen** zeigen: Die Unterbringung vieler Geflüchteter auf engem Raum erhöht das Ansteckungsrisiko.
Dr. Inez Kipfer-Didavi, Geschäftsführerin von Handicap International fordert: „Gerade während der Corona-Pandemie treten die grundsätzlichen Probleme offen zu Tage, die sich aus der Unterbringung geflüchteter Menschen mit Behinderung in Sammelunterkünften ergeben. Die Mitte 2019 gesetzlich verlängerte Unterbringungsregelung in diesen für Menschen mit Behinderung fast immer ungeeigneten Einrichtungen steht im Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention. Diese Form der Unterbringung muss beendet werden, wenn die betroffenen Menschen mit Behinderung das möchten.“
* Bis September 2020 kam es laut RKI zu 199 Ausbrüchen in Flüchtlingswohnheimen mit 4146 Infizierten. Vgl. https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/38_20.pdf?__blob=publicationFile , S. 6. (abgerufen am 16.11.2020)
** https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/coronavirus/Rahlstedt-Corona-Ausbruch-in-Fluechtlingsunterkunft,corona4978.html (abgerufen am 16.11.2020) oder in Kassel - https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/117466/Aerzte-kritisieren-Umgang-mit-SARS-CoV-2-Masseninfektion-in-Erstaufnahme?rt=397b47586512ed870b9d6ec7743d8134 (abgerufen am 16.11.2020)