Co-Preisträgerin Friedensnobelpreis
Blindgänger und Minen verseuchen die zerbombten Häuser, Straßen und Felder von Velyka Komyshuvakha, einem Bauerndorf im Osten der Ukraine, das von April bis September 2022 von russischen Truppen besetzt war. Das Dorf ist zu 90% zerstört. Trotzdem sind 95 der 521 Dorfbewohner dorthin zurückgekehrt und versuchen, ihre Häuser wieder aufzubauen und ein neues Leben zu beginnen.
Ein schwieriges, gefährliches und langwieriges Unterfangen für die knapp hundert Menschen. „Früher waren wir Bauern und jetzt sind alle unsere Felder vermint“, erzählt Inna. „Früher hatten wir alles: Kühe, Schweine, Geflügel. Jetzt haben wir nichts mehr. Die Skelette meiner Kühe liegen noch in der Nähe herum. Heute arbeite ich hauptsächlich für den Dorfrat und helfe jeden Tag beim Aufräumen der Trümmer. Die Schule und das Dorfzentrum sind völlig zerbombt und alle Saatgut-Lager sind eingestürzt“, so die 53-Jährige.
Das Gebiet ist stark mit Blindgängern kontaminiert und extrem gefährlich, sagt Viktoria Vdovichuk von der Hilfsorganisation Handicap International (HI). „Alle im Krieg verwendeten explosiven Waffen liegen hier herum: Minen, Stolperdrähte, Antipersonen-Minen, Antifahrzeug-Minen, aber auch Streubomben und Artilleriegranaten aller Kaliber“, zählt Viktoria auf. „Trotzdem sind die Dorfbewohner zurückgekehrt und leben heute hier. Sie bringen jeden Tag ihr Leben in Gefahr!“
Die Teams von Handicap International führen in den Dörfern, die durch den Krieg von der Außenwelt abgeschnitten waren, sogenannte Aufklärungsveranstaltungen durch. Die Spezialisten von HI helfen, die verschiedenen Arten von Sprengkörpern zu erkennen und erklären, warum sie gefährlich sind und welche Verletzungen sie verursachen können. Sie zeigen, was die Dorfbewohner machen müssen, wenn sie auf einen Sprengkörper stoßen und wie sie sich in Sicherheit bringen. „Sie dürfen sie niemals berühren, geschweige denn auf sie treten“, so Vdovichuk! „Das ist natürlich sehr sehr gefährlich!“
Der jüngste Teilnehmer ist Nazar, 11 Jahre alt. Dieser ukrainische Junge, dessen Schule in den letzten zwei Jahren ein Dutzend Mal bombardiert wurde, erzählt, dass er in seinem Dorf bereits auf explosive Überreste gestoßen ist; er hat sogar einige vor seinen Augen explodieren sehen. Naiv und verängstigt zugleich zeigt er auf die Trümmer von Sprengkörpern, die in den engen Straßen des Dorfes liegen, im Gras versteckt oder mit einem weißen Band (einem inoffiziellen Warnzeichen) markiert: „Ich habe gelernt, dass ich, wenn ich etwas Verdächtiges auf der Straße sehe, sofort weggehen und den Rettungsdienst anrufen muss", sagt Nazar. Für einen anderen Jungen kamen die Warnungen zu spät, erzählt Inna: „Mein Patenkind war gerade dabei, auf dem Feld zu arbeiten und Gemüse zu ernten, als eine der Minen direkt neben ihm explodierte. Zum Glück ist er am Leben, aber sein Ellbogen lässt sich nicht mehr beugen, und sein Rücken ist von Schrapnellen schlimm verletzt“, so Inna.
Am Eingang des Dorfes liegt das einzige „Café", in dem sich die Einwohner früher gerne trafen, in Trümmern. Die Räumlichkeiten wurden von den russischen Soldaten als „Stützpunkt" genutzt. Eine Gruppe von Frauen mit Schaufeln und Müllsäcken versucht, die Graffiti und Trümmer zu beseitigen, die überall zu sehen sind. Die Angst, auf eine Mine zu treten oder mit der Schaufel zu berühren, ist immer mit dabei. Die Narben, die der massive Einsatz von Explosivwaffen in der Ukraine hinterlassen hat, sind wie tiefe Gräben. Sie schneiden ganze Landstriche der Ukraine von der Außenwelt ab und erschweren nicht nur das tägliche Leben, sondern auch den Zugang zu Lebensmitteln, Arztpraxen oder Geschäften.
Wie die meisten Bewohnerinnen und Bewohner dieser ländlichen Gegend muss auch Inna mindestens 25 Kilometer zurücklegen, um einzukaufen oder sich medizinisch behandeln zu lassen. „Hier gibt es nichts mehr. Wir haben weder ein Café noch einen Laden. Mit etwas Glück kann jeden Mittwoch ein Arzt zu uns kommen. Wer kümmert sich um uns? Wenigstens hier können wir dankbar sein, dass wir Baumaterial erhalten haben, damit wir unsere Häuser wieder aufbauen können“, so Inna abschließend.
All die Menschen im Osten der Ukraine, die eines Tages in ihre Häuser zurückkehren wollen, und alle diejenigen, die bereits in den zerstörten Dörfern um ein bisschen Normalität kämpfen, werden noch lange mit der Angst vor Minen und Blindgängern leben müssen.
Handicap International versorgt in der Ukraine Schwerstverletzte, kümmert sich um Menschen mit Behinderung und hat bereits über 60.000 Menschen über die Gefahren vor Blindgängern aufgeklärt. Die Teams haben über 2.200 humanitäre Hilfskräfte ausgebildet und 95 Menschen, die in ihren Gemeinden für das Thema Ansprechpartner sind.
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