Text: Till Mayer
Ganz genau kann sich Abdi Karshe nicht mehr erinnern, wann ihm sein Vater das rote Trikot in die Hand gedrückt hat. Aber eines ist sicher: Es war lange bevor das Chaos in Mogadischu ausbricht und die Kugel seine Wirbelsäule trifft. Abdi Karshe ist noch ein Junge. Sein Vater kommt von einer Europareise zurück, im Gepäck hat er das Trikot von Bayern München. Karshe sieht verwundert auf das rote Shirt, seine Klassenkameraden schwärmen für Juventus oder Barcelona. "Bayern München?", fragt er seinen Vater. Der lacht und nickt: "Ein guter Verein, mein Junge." Als Karshe sich mit dem Trikot im Spiegel sieht, ist ihm klar: Das ist sein Club. Das Shirt streift er sich bei jedem Training über. Dann stürmt er und träumt von sattgrünem Rasen und Toren mit echten Netzen.
Eines Tages ist das Trikot so ausgewaschen, dass man die Farbe nur noch erahnen kann. Es ist eine Erinnerung an seinen Vater, der mittlerweile verstorben ist. Eine furchtbare Zeit ist angebrochen. 1994 gibt es in Mogadischu nur noch ein Gesetz - das schreiben die Milizen mit der Kalaschnikow.
Karshe und seine Freunde träumen weiter von der Fußballkarriere, analysieren die europäischen Erstliga-Spiele. Das gibt ein wenig Normalität in dieser Welt, die keine Sicherheit mehr bietet. Ein paar hundert Meter weiter sterben Menschen im Krieg.
Eines Tages stehen Kämpfer direkt vor der Schule, Karshe ist damals 18 Jahre alt. "Jetzt lauft um euer Leben", brüllt der Lehrer. Karshe rennt. Ein Querschläger trifft ihn. Der Teenager wird danach nie wieder laufen können: Er bleibt gürtelabwärts querschnittsgelähmt.
In seinem Viertel gibt es ein Krankenhaus, das ihn versorgt. Aber eines Tages ziehen auch die Ärzte ohne Grenzen ab. Die Mutter kauft Verbandszeug auf dem Markt. Medikamente sind schwer zu bekommen oder einfach unbezahlbar.
Mit dem Schleuser nach München
Karshes Zustand verschlechtert sich. Fast drei Jahre nach seiner Verletzung jagt immer noch das Fieber durch seinen Körper. Der junge Mann besteht nur noch aus Haut und Knochen. Ein Freund seines Vaters redet schließlich mit der Mutter. "Dein Sohn stirbt, wenn er in Somalia bleibt. Er hat hier keine Chance."
Die Mutter nimmt die letzten Ersparnisse des verstorbenen Vaters, Freunde geben Geld. 3.000 Dollar kratzen sie zusammen für einen gefälschten kenianischen Pass, Flugtickets und den Schleuser. Über Dubai geht es nach München. "Geh hier zur Polizei, sie wird dir helfen. Ich kann jetzt nichts mehr für dich tun", sagt der Schleuser und verschwindet.
Mit seinem kenianischen Pass kann der Somalier einreisen. Doch die lange Reise hat den Rollstuhlfahrer alle Kraft gekostet. Er nimmt sich ein Taxi und gibt dem Fahrer seine hundert Dollar. "Fahren Sie mich irgendwohin", sagt Karshe. Vor einer Post wird er abgesetzt.
Mit letzter Kraft rollt der Somalier hinein und bittet, dass jemand die Polizei holt. Der Afrikaner verliert immer wieder das Bewusstsein. Auf der Polizeiwache nimmt man seine Personalien auf. Karshe erklärt, dass er ein Kriegsflüchtling ist. So recht weiß er gar nicht, wo er ist. "M-ü-n-c-h-e-n", sagt der Polizist immer wieder. Und ob er nicht den berühmten Fußballclub Bayern München kenne. Da versteht Karshe endlich und nickt. Mit Blaulicht geht es zum Klinikum und direkt auf die Intensivstation: 18 Monate bleibt er im Krankenhaus, eine OP folgt der nächsten. "Sie haben mir damals das Leben gerettet", ist sich der Mann im Rollstuhl sicher.
"Ich will arbeiten und Steuern zahlen." - Abdi Karshe
Der 37-Jährige sitzt heute in seiner kleinen Einzimmerwohnung. Dort steht ein riesiger Flachbild-Fernseher - der ganze Stolz des Somaliers. Jahrelang hat er darauf gespart. "Ein Drittel konnte ich selber zahlen, den Rest haben mir die Elmanns geschenkt", sagt der Mann im Rollstuhl.
Die Münchner Familie zählt zu den Freunden des Afrikaners. Auf einer kleinen Anrichte steht ein Foto von ihnen. "Ich genieße jedes Spiel, das ich darauf sehen kann", sagt Karshe. Der Asylbewerber erzählt vom Roten Kreuz, dessen Sozialarbeiter ihm beigestanden haben. Vom Pflegedienst, der jeden Tag zu ihm kommt.
Gerne würde Karshe, der inzwischen einen deutschen Pass besitzt, etwas zurückgeben. "Ich will arbeiten und Steuern zahlen", sagt er. Er spricht fehlerfreies Deutsch, kann mit Computern umgehen. Das Rote Kreuz vermittelte ihn an die Hilfsorganisation Handicap International, die mit dem Projekt ComIn Flüchtlinge und Asylbewerber mit Behinderung beriet, ihnen Sprach- und Computerkurse anbietet. Abdi Karshe ist mittlerweile selbst Trainer. Dass aus Klienten Lehrende werden, ist Teil des Konzepts.
ComIn als Projekt von Handicap International e.V. (HI) ist zum 31.12.2020 ausgelaufen.
Welt voller Barrieren
Wahr ist aber auch: Die Wenigsten machen so positive Erfahrungen wie Karshe. 2012 haben fast 65.000 Personen in Deutschland um Asyl gesucht, nur 14,2 Prozent der Antragstellenden wurden als Flüchtlinge anerkannt.
Bayern hat von allen Bundesländern das strengste Lagersystem. Kritiker beklagen oftmals menschenunwürdige Bedingungen. Zurzeit leben in dem Bundesland 7.636 Asylbewerber in Gemeinschaftsunterkünften, abgeschoben an den Stadtrand. Nicht selten sind das heruntergekommene Baracken, ausgediente Heime. Für Asylbewerber mit Behinderung eine Welt voller Barrieren, die sie ohne fremde Hilfe nicht verlassen können. Doch sie tauchen im Zahlenwerk der Behörden nicht einmal auf: "Asylbewerber mit Behinderung werden nicht gesondert erfasst", teilt die Regierung von Oberbayern auf Anfrage mit. Zu den Lebensumständen heißt es knapp: "Asylbewerber mit Behinderung werden in barrierefreien Unterkünften aufgenommen. Bei Sanierung von Gemeinschaftsunterkünften achten wir selbstverständlich auch auf Barrierefreiheit."
Sanierung würde wohl vielen Unterkünften gut tun, klagen Kritiker. Dort herrscht Tristesse. Und gegessen wird, was sich in den gelieferten Essenspaketen befindet, oft Lebensmittel von minderer Qualität oder abgelaufene Produkte. Wer den Landkreis verlässt, um Freunde und Verwandte zu besuchen, muss eine Sondergenehmigung einholen. Bedingungen, die nicht zuletzt dazu führten, dass Dutzende Flüchtlinge auf dem Münchner Rindermarkt in den Hungerstreik traten.
"Als IT-Experte ist man ein gefragter Mensch." - Abdi Karshe
Das musste Karshe nicht durchleiden. Der Afrikaner konnte schon aufgrund seiner schweren Kriegsverletzung nicht in einer Unterkunft untergebracht werden.
Er würde gern eine Ausbildung im Bereich Informationstechnik machen. "Als IT-Experte ist man ein gefragter Mensch", sagt Karshe. "Die Agentur für Arbeit unterstützt eine IT-Ausbildung wegen meiner immer wieder anstehenden Operationen nicht", erzählt er. "Aber ich würde es gerne probieren."
Er klingt nicht verbittert, als er über die Ablehnung der Behörde spricht, aber enttäuscht. Und er wird weiter kämpfen.
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