Co-Preisträgerin Friedensnobelpreis

Amiras Geschichte: Gefangen im Zentrum der Kämpfe

Amira ist 42 Jahre alt. Sie lebte in einer Stadt im Regierungsbezirk Aleppo und war als Lehrerin tätig. Von 2012 bis 2015 erlebte sie viele Bombenangriffe in ihrem Dorf, bis sie in die Türkei und anschließend 2016 in den Libanon fliehen konnte. Ihr älterer Sohn wurde bei einem Bombenangriff getötet und sie lebt nun allein mit ihrem dreizehnjährigen Sohn. 

Amira sitzt auf einem Stuhl und erzählt ihre Geschichte. Es ist nur ihr Unterkörper zu sehen, da sie nicht erkannt werden möchte.

Amira erzählt ihre Geschichte | © Benoit Almeras / Handicap International

Sie leidet unter Depressionen und nimmt noch immer Medikamente. Als wir sie auf die Bäume und Blumen vor dem Haus ansprechen, entschuldigt sie sich.

„Alle sagen, dass es hier so schön sei. Ich weiß es nicht. Ich gehe nie nach draußen.“

In ihrem Mobiltelefon hat sie ein langes Video von ihrem Haus in Syrien gespeichert.

Angst vor den Flugzeugen

Vor dem Krieg, als wir noch Kinder waren, freuten wir uns immer, wenn wir Flugzeuge am Himmel sahen und winkten ihnen zu. Wir träumten auch vom Fliegen. Sogar als erwachsene Frau mit 39 Jahren freute ich mich immer, wenn ich ein Flugzeug sah.

Das änderte sich schlagartig, als der Krieg begann. Das erste Mal, als das Flugzeug kam, war ich gerade mitten im Gebet. Ein Gebet ist eine enge spirituelle Verbindung zu Gott. Sie lässt sich nicht so einfach unterbrechen. Doch die Angst unterbrach mein Gebet. Ich rannte aus dem Haus zu meinem Cousin und klammerte mich zitternd an ihn. So als könnte ein Mann mich vor diesem Flugzeug beschützen. Als könnte mein Cousin mich vor dem Tod bewahren. Trotz meiner Angst dachte ich zuallererst an meine Söhne. Ich hatte zwei Söhne, bevor ich den Ältesten verlor.

Immer wenn ich nun Flugzeuge höre, werde ich starr vor Angst. Ich kann nicht einmal nach oben zu dem Flugzeug blicken.

Als die Bombardierungen begannen, wurde das Leben zunehmend schwieriger. An den meisten Tagen blieb die Schule geschlossen. Oft gab es keinen Strom. Aber vor allem war es einfach beängstigend. Der Lärm erschrak die Kinder. Fliegerbomben, Raketen, Lenkraketen, Mörser, Flakgeschütze – sie waren überall um uns herum. Jedes Mal hatte ich das Gefühl, dass wir Zivilistinnen und Zivilisten mittendrin waren. Gefangen im Zentrum der Kämpfe, ohne Zufluchtsort.

Selbst wenn die Schule nicht geschlossen war, blieben viele Kinder zuhause, weil der Fußweg dorthin so gefährlich war. Und wenn wir Unterricht hatten, fühlte sich die Schule nicht mehr sicher an. Bald verließen die Lehrkräfte nach und nach die Stadt. Ich blieb als eine der wenigen Lehrerinnen noch in der Stadt. Eine Zeit lang nutzten Vertriebene die Schule als Schlafplatz. Doch beide Schulen, in denen ich gearbeitet hatte, wurden bombardiert. Viele Menschen starben bei diesen Angriffen. Vor der Schule lagen alle möglichen Arten von explosiven Waffen herum. Genau dort, wo die Kinder spielten. Und außerhalb der Stadt lauerten überall Landminen.

Wenn die ganze Welt erzittert

Immer wenn der Beschuss und die Bombenangriffe begannen, gab es nur ein Ziel: wegrennen und sich verstecken. Wir waren wie zitternde und erschrockene Hunde. Meistens versteckten wir uns in unserem Haus. Mein Sohn verbarg sich immer unter einem Bett oder Sofa. Er wählte immer das am weitesten vom Schusslärm entfernte.

Überall waren Angst, Schreie und Zittern. Die ganze Welt erbebte mit mir. Die Menschen liefen kreuz und quer und stießen zusammen, es herrschten Chaos und Furcht. Sogar Tiere rannten. Alle rannten in eine unbestimmte Richtung. Es gibt keinen logischen Gedanken; selbst wenn man logisch denkt, kann das Dach über einem nicht mehr als Schutz dienen.

Wir wussten nicht, wohin wir liefen, aber wir mussten laufen. Wir flohen ins Ungewisse.

Mein anderer Sohn rannte in die hinterste Ecke des Hauses. Wenn das Flugzeug aus Westen kam, liefen wir in Richtung Osten. Wenn es aus Osten kam, liefen wir nach Westen.

Wir suchten Schutz in den Mauern, bei Menschen, in der Gesellschaft anderer. Ich hatte einen Nachbarn, der zu mir gelaufen kam, in mein Haus, als wäre Zusammensein ein Schutz. Wir wollten gemeinsam sterben.

Vom Tod umgeben

Innerhalb von Sekunden kommen einem unzählige Gedanken auf: Wenn ich sterbe, was wird dann aus meinen Kindern? Wenn meine Kinder sterben, was soll ich tun? Wenn das Haus zerstört wird und auf mir zusammenfällt? All diese Gedanken tauchen innerhalb von Sekunden auf, wenn sich der Tod nähert. Ich betete zu Gott: Wenn der Tod kommt, bitte lass ihn zu mir und meinen Kindern gleichzeitig kommen. Damit wir alle zusammen im selben Augenblick sterben.

Liebe lässt einen am Leben festhalten. Ich hielt am Leben fest, weil ich mich selbst liebte, weil ich meine Kinder, meine Freunde, meine Schüler, das Haus, die Wände und die Olivenbäume liebte.

Ich verlor meinen Sohn. Er starb. Ebenso starb mein Bruder, starb meine Schülerin, starb mein Nachbar, starb meine Freundin und starb mein Cousin. Ich habe Angst vor dem Tod. Vor der Vorstellung, dass ich in einem einzigen Moment meinen anderen Sohn, meine Mutter und meine geliebten Menschen verlieren könnte.

Früher war es ein denkwürdiges Ereignis, wenn man vom Tod eines Menschen erfuhr. Nun wiederholt sich der Tod immer wieder. Wir gewöhnen uns so sehr an ihn, dass er beinahe banal wird. Doch der Schmerz bleibt. Ich habe Geduld und Beständigkeit gelernt. Doch der Schmerz, wenn man jemanden verliert, bleibt so stark wie beim ersten Mal. Der Tod meines Sohnes tat mir weh, und der Tod meines Bruders danach hätte mir weniger wehtun sollen. Aber nein, der Tod blieb genauso schmerzhaft. Der Krieg hat Spuren hinterlassen. Den Tod werden wir nie vergessen.

Heimat um jeden Preis

Trotz alledem verlässt man sein Zuhause, seine Heimat nicht so einfach. Wenn man bleiben kann, dann bleibt man. Und wenn man die Möglichkeit hat, zurückzukehren, dann kehrt man zurück. Außerdem sahen wir, was mit den Häusern derjenigen geschah, die weggingen. Sie wurden geplündert. Alles, was sie besaßen, wurde gestohlen. Und andere Menschen zogen in die Häuser ein.

Mein Heimatort liegt nicht weit vom Libanon entfernt. Vor dem Krieg verbrachte ich in den Schulferien einmal ein paar Monate mit Freunden im Libanon. Die Fahrt dauerte höchstens sechs Stunden. Doch der Krieg verändert alles. Als ich jetzt das erste Mal wieder in den Libanon reiste, benötigte ich zwei Tage bis zur Grenze. Wir nahmen andere Wege, um die Schießereien und Bombardierungen zu meiden. Und als ich dort war, vermisste ich unser Haus. Ich begann zu denken, dass ich mich selbst an Bombardierungen gewöhnen könnte. Und dass es nun einmal Schicksal wäre, wenn mir etwas zustieße. Also ging ich zurück und legte mein Leben in Gottes Hände. Doch kurz danach fiel die Stadt. Von da an wurde es unmöglich, die Stadt zu verlassen. Selbst nach Aleppo. Ich litt an einem Leistenbruch und musste operiert werden. Doch an meinem Wohnort war keine solche medizinische Behandlung möglich. Deshalb saß ich dort fest.

Wenn man an seinem Heimatort bleibt, wird man zum Verdächtigen. In den letzten Jahren fiel die Kontrolle über unsere Stadt dreimal in andere Hände. Und jedes Mal wurden uns dieselben Fragen gestellt: Warum seid ihr nicht geflohen? Wieso seid ihr geblieben, wenn ihr angeblich nicht zu der Kriegspartei gehört, die die Stadt beherrschte? Nein, das bedeutet es nicht. Wir versuchten zu erklären, dass man nicht automatisch auf einer Seite steht, wenn man zuhause bleibt. Es war unsere Stadt. Man verlässt sein Zuhause nicht so einfach.

Es dauerte ein ganzes Jahr, bis ich die Stadt wieder verlassen konnte. Wir mussten Schlepper bezahlen. Diesmal nahmen wir einen anderen Weg. Es ging über die Türkei und von dort mit dem Flugzeug in den Libanon. Als wir an Bord des Flugzeugs gingen, begann mein Sohn aus voller Kehle zu schreien. Die Erinnerungen an die Bombenangriffe überkamen ihn.

Ein ganzes Land vertrieben

Man sieht Menschen aus Homs nach Aleppo gehen und Menschen von Aleppo nach Homs ziehen. Jedes Mal, wenn die Bombenangriffe eskalieren, fliehen die Menschen. In jeder Stadt ist es dasselbe.

Wir sind in einem Zustand ständiger Bewegung und erzwungener Migration. Für die syrische Bevölkerung finden Leben und Tod auf der Straße statt. Wer Syrien nicht verlassen hat, ist innerhalb des Landes tausende Male vertrieben worden. Keine sichere Zuflucht, keine Aussicht auf Morgen. Wir leben in einem Zustand der Anspannung und warten voller Angst darauf, dass jemand im Bombenhagel, in Minenexplosionen, durch Krankheiten stirbt. Oder weil wir keine Ärzte und keine Krankenhäuser mehr haben. Mehrere Frauen sind im Kindbett gestorben. Und Kinder sind umgekommen, weil kein Krankenhaus in der Nähe war.

Erzwungene Vertreibung ist demütigend. Ein syrisches Sprichwort sagt: Wer sein Haus verlässt, verliert seinen Wert. Bedürftigkeit ist demütigend, ebenso wie in einer Gemeinde zu leben, die nicht die eigene ist.

Das Leid kann nicht mit Worten beschrieben werden. Worte können nicht den Horror schildern, den wir miterlebt haben. Der Krieg hat die besten Jahre meines Lebens zerstört, mir meinen Sohn, meine Brüder und meine Existenz geraubt. Er hat mich krank gemacht vor Angst und Stress.

Ich habe meine Identität verloren und bin eine Geisel meiner Einsamkeit. Diejenigen, die gestorben sind, sind zu Gott gegangen, und Gott möge ihnen Gnade erweisen. Für die jungen Menschen, die geblieben sind und ihre Jugendjahre verloren haben, hoffe ich, dass sie wieder zum Leben erwachen und das Leben lieben. Weit weg von Krieg und Tod.

Jede Stimme zählt! Helfen Sie uns bei unserem Engagement gegen die Bombardierung der Zivilbevölkerung und unterzeichnen Sie unsere Petition STOP! Bombing Civilians!

 

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