Co-Preisträgerin Friedensnobelpreis

Nadias Geschichte: Bauern ohne Ernte

In einer kleinen Flüchtlingssiedlung sitzt Nadia, 33 Jahre, auf dem Fußboden ihres Familienzeltes. Ihr Mann sitzt neben ihr im Rollstuhl. Sie bereitet mit der älteren Tochter Kaffee zu, während die zwei jüngeren Töchter vor dem Fernseher spielen.

Nadia ist Syrien geflohen und hat unvorstellbares Leid erlebt.

Nadia ist ein syrischer Flüchtling und lebt mit ihrer Familie in einem Camp im Libanon. | © Benoit Almeras / Handicap International

Nadia und ihre Familie kommen aus der kleinen Stadt AQ, nahe Homs, in Syrien.

Bauern ohne Ernte

Wir waren Bauern und hatten viel Land. Wir bauten Wassermelonen, Auberginen, Tomaten, Äpfel, Zwiebeln und andere Gemüsesorten an. Sogar ein paar Kühe hatten wir. Auch meine Eltern besaßen Land. Die meiste Zeit hatten wir genug, um uns selbst zu ernähren. Alles war günstig.

Bevor der Krieg begann hatten wir Äpfel und Pfirsiche. Danach nichts mehr. Die Äpfel waren voller Würmer. Wir hörten, dass wohl einige Chemikalien aus den Bomben der Grund dafür seien.

Mein Mann hatte ein kleines Baugewerbe aufgezogen. Damals reiste ich ab und zu in den Libanon und fand es immer schön. Aber jetzt nicht mehr.

Vertreibung durch die Bomben

Nachdem der Krieg begonnen hatte, blieben wir noch ein Jahr lang in unserem Haus. Monatelang wurde bombardiert – mit Fassbomben aus Flugzeugen.

Jedes Mal, wenn die Flugzeuge angriffen, rannten wir in die Obstplantagen. Danach kamen wir zurück zum Haus. So hielten wir das ein Jahr aus. Am Ende waren wir die einzigen, die in unserer Stadt übrig waren. Mein Mann wollte gehen, aber ich wollte in meinem Haus bleiben.

Einmal war ich allein in den Obstplantagen. Ich sah die Fassbombe, als sie vom Himmel fiel. Sie war länglich und machte kein Geräusch. Wir hörten nichts, sondern sahen sie einfach nur fallen. Die Explosion war so stark, dass sie mich nach hinten schleuderte.

Nach jedem Bombenangriff kamen wir zu unserem Haus zurück. Doch nach einem Jahr beschlossen wir, zu meinem Bruder und meiner Schwester zu ziehen, wo wir uns sicherer fühlten. Als die Bombenangriffe schlimmer wurden, merkten wir bald, dass es dort auch nicht sicherer war. Und wieder mussten wir weiterziehen. Wir gingen zu meinen Schwiegereltern, die in derselben Gegend wohnten. Dort blieben wir rund drei Jahre.

Nadias Familie vor ihrem Zelt im Flüchtlingscamp im Libanon.

Manche sterben und manche bleiben zurück

Dann wurden meine Mutter und mein Bruder getötet. Ich konnte nicht mehr länger bleiben. Die Bombardierungen wurden immer mehr. Wir hatten Angst um unsere Kinder. Diejenigen, die sterben, haben ihren Frieden. Doch die, die bleiben und eine Behinderung haben, müssen leiden. Den Verwundeten konnte keiner helfen. Sie litten schlimme Qualen.

Meine Mutter war schon seit drei oder vier Tagen tot, als ich davon erfuhr. Sie war bei uns zu Besuch gewesen. Sie starb, als sie unser Haus verließ. Ich stand unter Schock. Ich konnte nichts essen oder trinken. Wir trauerten noch um meine Mutter, als ich einen Monat später erfuhr, dass mein Bruder gestorben war. Wir gingen ins Haus meiner Eltern, um seinen Tod zu betrauern.

Am dritten Tage unserer Trauer schlug eine Bombe im Haus meiner Eltern ein. Meine Tochter Khadeeje wurde am Kopf verletzt. Auch sie hat es nicht überlebt.

Meine kleine Tochter

Meine Tochter hatte immer Angst. Nachts machte sie ins Bett. Und auch tagsüber machte sie sich oft in die Hosen. Danach stellte sie sich eigenständig unter die Dusche. Sie kam immer zu mir, um auf meinem Schoß zu schlafen. An jenem Tag wollten wir die Nachbarn besuchen. Als wir das Haus verließen, schlug die Bombe ein. Ich hörte nichts mehr. Ich konnte meine Ohren nicht mehr fühlen. Ich hämmerte gegen die Tür und schrie den Namen meiner Tochter. Niemand antwortete. Sie lag auf dem Boden. In ihrem Kopf war ein Loch und sie blutete. Meine andere Tochter und mein Bruder waren ebenso von Granatsplittern verwundet.

Zunächst versuchte mein Bruder, ihren Leichnam vor mir zu verstecken. Doch ich konnte sehen, dass sie tot war. Meine kleine Tochter war gestorben. Meine Tochter, stellen Sie sich das vor! Ich hatte ihr etwas Neues zum Anziehen gekauft. Sie trug diese Kleidung nur ein einziges Mal. Sie hatte nicht einmal mehr die Zeit, sich daran zu erfreuen.

Der Verlust raubte mir die Kraft

Ich war lange Zeit völlig kraftlos. Ich wollte sterben. Ich wollte meinem Kind folgen und sterben. Wie hätte ich nicht trauern sollen? Nach ihrem Tod konnte ich nicht mehr länger bleiben. Ich hasste diesen Ort. Ich hatte meine Tochter, meine Brüder und meine Mutter verloren. Ich konnte nicht mehr. Wir machten uns auf in den Libanon.

Vor unserer Ankunft erfuhr ich, dass mein Mann verletzt worden war und dass ein weiterer Bruder gestorben war. Ich weinte so viel nach all diesen Verlusten. Ich kann nicht mehr in meine Stadt zurück. Unser Land ist verloren. Ich will nicht in Syrien sterben. Überall, aber nicht dort. Ich will die Gräber meiner Brüder besuchen, aber ich möchte nicht zurückkehren, um dort zu leben.

Unsicherheit im Libanon

Wir kamen in den Libanon über Arsal dann kamen wir in diese Gegend. Zunächst lebten wir bei meiner Schwester, dann mieteten wir für ein Jahr eine Wohnung. In den ersten vier Monaten konnten wir die Miete nicht bezahlen. Aber der Eigentümer erlaubte uns, zu bleiben. Dann konnten wir ein Jahr lang bezahlen. Doch als unser Geld erneut weg war, mussten wir umziehen. So landeten wir in diesem kleinen Camp. Wir haben hier eine gewisse Stabilität gefunden. Wir verstehen uns gut mit unseren Nachbarn.

Aber jetzt gibt es wieder neue Unsicherheit: Wir haben gehört, dass der Eigentümer die Leute von hier wegschicken will, um zu bauen oder das Land zu verkaufen. Andere Gerüchte besagen, dass die Miete steigen wird. Wir wissen nicht, wann wir auch von hier wieder weg müssen.

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