Co-Preisträger Friedensnobelpreis

Gemischtes Doppel in Kabul

Inklusion Öffentlichkeitsarbeit
Afghanistan

Seit dem Fall der Taliban kann in Afghanistan wieder ungehindert Sport getrieben werden. Ein Fußballprojekt, das 2003/2004 in Kabul durchgeführt wurde, gibt den Opfern des Krieges neue Hoffnung. Carsten Stormer hat dieses Projekt besucht.

Auf dem ausgetrockneten Fußballfeld laufen ausgemergelte Gestalten einem abgewetzten Ball hinterher, werfen sich in den Staub und versuchen, dem Gegner den Ball abzunehmen. Die Spieler sind zwischen fünfzehn und dreißig Jahre alt. An sich nichts Ungewöhnliches, würde man sich in einem „normalen“ Land befinden. Doch die Szene spielt in Afghanistan, vor der Kulisse des ehemaligen Olympiastadions. Bis vor wenigen Jahren konnte man hier die öffentlichen Hinrichtungen von Delinquenten, die gegen die absurden Normen und Regeln der Taliban verstoßen hatten, besuchen. Seitdem die Koalitionstruppen und die ISAF die Taliban in die Weiten der afghanischen Steppe vertrieben haben, kann man an jeder Ecke, auf jeder Wiese oder jedem offenen Feld wieder Sport treibende Menschen sehen. Wie diese Fußballer. Etwas Ungewöhnliches ist bei ihnen zu beobachten – einige laufen auf Gehstützen, andere haben anstelle eines Arms nur noch einen Stumpf, der aus ihrem Ärmel herausschaut. Sie sind Opfer des 23-jährigen Krieges, die noch keinen Platz in der neuen afghanischen Gesellschaftsordnung gefunden haben.

Aufgrund des jahrzehntelangen Krieges und der dadurch entstandenen extremen Gefahr durch Landminen und Blindgänger lebt in Afghanistan eine besonders große Zahl von Menschen mit Behinderungen. Da Sport die körperliche Rehabilitation, aber auch das Selbstbewusstsein und die soziale Wiedereingliederung dieser Menschen deutlich fördern kann, hat Handicap International mit Unterstützung der FIFA ein besonderes Sportprojekt für sie ins Leben gerufen. Die FIFA stellte dem Projekt bereits 35.000 Euro zur Verfügung, um gemeinsam mit den nationalen Vereinigungen Trainer auszubilden und Schuhe oder Trikots zu finanzieren.

Mohammad Sardar ist 27. Das linke Bein des Afghanen musste amputiert werden, nachdem er auf eine Landmine trat. Mit Hilfe seiner Gehstützen hinkt er, so schnell es auf dem unebenen Gelände geht, dem Ball hinterher. Mit einer Krücke stoppt er das Leder, mit der anderen legt er sich den Ball zurecht. Er hält kurz inne, stützt sich auf beide Gehhilfen, dann schießt er den Ball ins Tor. Jubel bricht aus. Heute wird gemischtes Doppel gespielt – in jedem Team drei Einarmige und drei Einbeinige. Die Chancengleichheit soll gewahrt werden – so zynisch das in einem Land wie Afghanistan klingen mag. Mohammad hat keinen Job; von der afghanischen Übergangsregierung erhält er sechs Dollar im Monat – selbst in Afghanistan reicht das nicht aus, um zu (über)leben. Einzelne Zigaretten, die er sich erbettelt, muss er am Straßenrand verkaufen, um seine Frau und seine Tochter zu ernähren. Die anderen Spieler haben ähnliche Schicksale erlitten – Landminen, Handgranaten oder Raketen haben sie ihrer Körperteile beraubt.

Neben der Integration ist es auch Ziel des Sportprojekts, eine nationale Behindertenliga aufzubauen. Dies könnte den afghanischen Spielern die Möglichkeit geben, an großen internationalen Spielen, wie den Paralympics, Special Olympics oder internationalen Freundschaftsspielen teilzunehmen und sich mit anderen Behindertenteams aus der ganzen Welt zu messen. Trainer Sayed Kabir Hashimi, selbst durch eine Raketenexplosion verstümmelt, sagt von seinen Spielern, dass sie sehr gute Fortschritte machen. „Wenn ich bessere Trainingsmöglichkeiten hätte, könnten meine Jungs jedes Team der Welt schlagen.“ Er schwärmt von der deutschen Nationalmannschaft: „Wenn ich ein Trainingsvideo der Deutschen hätte, könnte ich deren Taktik übernehmen. Die Deutschen spielen gut, von denen könnte ich lernen.“ Als er jung war, spielte der Fußballbegeisterte selbst in einer Mannschaft – bis eine Rakete in die Bäckerei einschlug, in der er gerade Brot einkaufte. Hauptberuflich ist Hashimi als Rezeptionist im Wazir-Akbar-Khan Krankenhaus, einem physiotherapeutischem Institut, angestellt. Er ist der Einzige der Mannschaft, der einen Beruf ausübt.

Noch fehlen in Afghanistan die Strukturen für Behindertensport, doch die große Erfahrung der FIFA im Bereich des Aufbaus von nationalen Verbänden wird bei diesem Prozess eine bedeutende Rolle spielen. Trainer Hashimi beklagt vor allem, dass kein Geld für den Transport der Spieler bereitgestellt wird. Aufgrund ihrer Behinderungen haben sie es besonders schwer, sich in Kabul fortzubewegen. „Die Spieler kommen von überall her. Wenn das Projekt Erfolg haben soll, benötigen die Spieler ein wenig Geld – und sei es nur, um sich nach dem Training mit einem Glas Milch zu stärken“, sagt er. Wie die Spieler in den Straßen Kabuls überleben und dennoch die Energie für das Training aufbringen, weiß auch er nicht. Immerhin wird dreimal die Woche morgens und abends ein Training abgehalten. Dabei hat sich seit dem Fall der Taliban schon einiges geändert. Bis vor kurzem mussten sie noch die bärtigen Gotteskrieger um Erlaubnis bitten, um Fußball spielen zu dürfen. Oft wurden sie wegen anti-islamischer Betätigungen geschlagen und beschimpft.

Im Schatten der zerschossenen Ruinen von Kabul werfen die Spieler ihre Krücken weg und fallen in den Staub. Das Training ist zu Ende. Sie sind erschöpft und verschwitzt, doch der Spaß an dem Spiel ist ihnen deutlich anzumerken. Der einbeinige Mohammad zieht wieder seine zerfetzte Uniform an. Unter seiner Jacke blitzt eine Armeepistole hervor – seine Lebensversicherung in den Straßen Kabuls.

28 August 2006
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