Co-Preisträger Friedensnobelpreis

„In Tunesien steht die Revolution gerade erst am Anfang…“

Inklusion Öffentlichkeitsarbeit Rechte von Menschen mit Behinderung
Tunesien

Interview mit Louis Bourgois, dem regionalen technischen Koordinator für Nordafrika, Spezialist für politische Strategien zu Behinderung und Unterstützung der Zivilgesellschaft.

Louis ist seit 2006 Mitglied von Handicap International und verbrachte die letzten sechs Jahre damit, an der Seite von Menschen mit Behinderung zu arbeiten. Aus der Sicht der unzähligen Geschichten individueller und kollektiver Kämpfe, die Louis schon erlebt hat, ist die Bewegung in Nordafrika, die als Volksaufstand begann und nun als „arabischer Frühling“ bekannt ist, eine völlig neue Erfahrung für ihn.
Im Folgenden erzählt er, wie diese Revolution von Menschen mit Behinderung empfunden und geführt wird, die durch ihr starkes Verlangen nach einem Wandel motiviert werden.

Die Revolution ist noch nicht vorbei, sie steht gerade erst am Anfang

Beginnend mit dem Sturz Ben Alis bis zur Wahl der verfassungsgebenden Versammlung im Oktober 2011 spürte man eine gewisse Fassungslosigkeit und Furcht, die sich mit der Hoffnung überlagerte, die jeder hegte.
Damit die Dinge vorankommen, benötigt das Land nun vor allem Stabilität. Die Wahl der verfassungsgebenden Versammlung letzten Oktober war der erste Schritt in die richtige Richtung. Allerdings braucht das alles laut Louis Zeit, und die Revolution ist bei weitem nicht beendet, sondern steht viel mehr erst am Anfang. „Es ist auffällig, dass Ben Alis gestürztes Regime noch immer präsent in den Köpfen der Leuten ist und viele Tunesier nach wie vor dieselben „Reflexe“ haben, insbesondere in Hinblick auf die gefürchtete Überwachung.
Während der Diktatur kampierte eine unserer Hilfsempfägerinnen mit Behinderung fast ein komplettes Jahr vor dem präsidialen Palast, um die medizinische Ausstattung zu bekommen, die sie benötigte. Es war ein kleiner Kampf, den sie alleine, aber mit unübertroffener Entschlossenheit, führte. Heutzutage kann sich dieselbe Person mit anderen zusammenschließen und gemeinsam für einen Wandel einsetzen. Die Situation hat sich vollkommen verändert.“

Menschen mit Behinderung in hohem Grade für die erste freie Wahl mobilisiert

Menschen mit Behinderung nahmen an der Revolution genauso wie alle anderen Tunesier und Tunesierinnen teil. In Blogs, auf der Straße, vor dem Palast, in den Protesten – selbst bei jenen, die gewalttätig endeten… Sie waren an allen Fronten vertreten und aktuell fordern sie, dass sie dieselbe Anerkennung und Rechte wie alle anderen Bürger bekommen. Die Revolution muss die gesamte Bevölkerung fördern - und nicht 15% ausschließen.

“Wenige Wochen nach dem Beginn der Revolution fingen Menschen mit Behinderung an, sich zu treffen. Dabei wurden sie von Handicap International unterstützt. Es war ihnen wichtig, dass ihre Stimmen sowohl im Inland als auch im Ausland gehört werden. So wandten sie sich unter anderem an die Vereinten Nationen, als diese ihre regelmäßigen Menschenrechtsbeurteilungen durchführten.“ Hierfür bildete sich eine informelle Gruppe aus 20 jungen aktiven Menschen mit einem beeindruckenden Grad an Energie und Motivation, die entschlossen sind „die Türe, die sich gerade geöffnet hat, nicht wieder zufallen zu lassen“.

Diese Gruppe wurde erstmals während der Wahlen im Oktober aktiv. Sie kommunizierten durch die Presse und schrieben Texte, um die Organisation der Wahlen zu beeinflussen, damit wirklich die ganze Bevölkerung an den Wahlen teilnehmen konnte. Durch das Verschmelzen ihrer Netzwerke gelang es ihnen, zu über 100 Wahllokalen zu gehen, um sicherzustellen, dass sie barrierefrei waren. Menschen mit Behinderung wurden ebenfalls als offiziell akkreditierte Wahlbeobachter eingesetzt. „Mitglieder mit Hörbehinderung übersetzten sogar die 1.500 Wahllisten in Zeichensprache! Sie taten dies mit geringen Mitteln und arbeitenden Tag und Nacht. Sie gingen ebenfalls zu Pflegeeinrichtungen und besuchten Menschen mit Behinderung, um ihnen die Einsätze der Wahl zu präsentieren und um sie zu ermutigen, wählen zu gehen.“

“Wir rissen Wände ein, um sicherzustellen, dass jeder Zutritt zu den Besprechungszimmern hat.”

“Die Mitglieder der Gruppe von Menschen mit Behinderung sind größtenteils sehr jung und sprudeln vor Energie. Die Arbeit mit ihnen ist eine erhebende Erfahrung. Wir mussten Wände in unserem Büro in Tunesien einreißen, um es an die Anzahl der aktiven Menschen anzupassen und um jedem den Zutritt zu den Besprechungsräumen zu ermöglichen! Um zu gewährleisten, dass die Dinge in Tunesien schnell fortschreiten, ist es entscheidend, dass diese Einstellung anhält. Diese Gruppeist nun in der Lage, sich selbst wie jede andere Organisation für Menschen mit Behinderung zu strukturieren, und wir nehmen an, dass dies bald geschehen wird, damit ihre Stimme gehört werden kann. Momentan beenden sie ihren ersten Bericht mit dem Titel „Das neue Tunesien kann nicht ohne uns“. Der Bericht zeigt praktische Wege auf, wie eine vollständige Teilnahme im sozialen und politischen Leben für Menschen mit Behinderung sichergestellt werden kann.“

Die Situation veränderte radikal, wie Handicap International in Tunesien agiert. In allen Ländern, in denen Handicap International aktiv ist, arbeiten wir mit lokalen Institutionen, Fachkräften des Gesundheitswesens und vor allem mit Organisationen für Menschen mit Behinderung eng zusammen. In Tunesien war diese Form der Zusammenarbeit bisher nicht möglich, da Menschenrechtsorganisationen unter dem Regime verboten waren. „Menschen mit Behinderung hatten keine Stimme. Sie wurden lediglich dafür „verwendet“, die vermeintliche Großzügigkeit des Regimes zu unterstreichen, welches regelmäßig Decken und Nahrung unter dem Scheinwerferlicht der Medien verteilte. Gegenwärtig werden Menschen mit Behinderung immer organisierter und strukturierter und sind festentschlossen, unverzichtbare Akteure innerhalb des demokratischen Wandels zu werden.

“Die Energie der Leute, mit denen wir das Glück haben, zusammenarbeiten zu dürfen, ist ansteckend und wir lernen viel von der Zusammenarbeit. Wir tun alles Mögliche, um ihre Bewegung zu unterstützen, und liefern ihnen die technische und logistische Unterstützung, die sie benötigen. Die Dynamik allerdings haben sie selbst initiiert und diese sollte bald Früchte tragen. Halten Sie ein Auge auf Tunesien, ich denke es wird Sie überraschen, wie das Land sich in den nächsten Monate entwickeln wird!“

10 März 2012
Einsatz weltweit:
Helfen
Sie mit

Lesen sie weiter

Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen
© P. Meinhardt / HI
Inklusion Rechte von Menschen mit Behinderung

Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen

Frauen mit Behinderung sind Schätzungen zufolge etwa dreimal häufiger von Gewalt betroffen als Frauen ohne Behinderung. Anlässlich des internationalen Tags gegen Gewalt an Frauen, möchten wir das Projekt „Making It Work - Gender and Disability“ vorstellen: Es befasst sich mit Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behinderung in Afrika.

Gaza: Starke Mütter für starke Kinder
©Motasem Mortaja
Inklusion Vorsorge und Gesundheit

Gaza: Starke Mütter für starke Kinder

Junge Mütter von Kindern mit einer Behinderung haben es besonders schwer in Gaza. Die Lebensumstände in dem schmalen Streifen am Mittelmeer sind äußerst prekär. Da ist es für die Frauen eine besondere Herausforderung, sich um ihre Kinder zu kümmern und Geld für notwendige Medikamente zu haben. Therapeutinnen und Sozialarbeiterinnen unterstützen die Mütter und fördern Kinder wie die kleine Zainab.

Jahresbericht 2022 – Handicap International baut weltweit Hilfe aus
© F. Rabezandriantsoa Bakoly/HI
Öffentlichkeitsarbeit

Jahresbericht 2022 – Handicap International baut weltweit Hilfe aus

Über 2,5 Millionen Menschen haben 2022 direkte Hilfe von Handicap International erhalten. Darunter Geflüchtete in Uganda, verwundete Mädchen in Afghanistan, Flutopfer in Pakistan oder unterernährte Kinder in Mali. Zudem haben wir Minen geräumt, über die Gefahren von Blindgängern aufgeklärt und für die Rechte für Menschen mit Behinderung sowie für den Schutz von Zivilist*innen im Krieg gearbeitet.