Co-Preisträger Friedensnobelpreis

Tiyan: Allen Widerständen zum Trotz für eine Bildung kämpfen

Inklusion Rechte von Menschen mit Behinderung
Äthiopien

Bis zu ihrem 7. Lebensjahr führte Tiyan Bushra ein „normales“ Leben. Dann erkrankte sie am Nervensystem und erblindete. Jahrelang blieb sie daheim. Heute geht sie in eine Schule, an der Handicap International seit 2012 ein Inklusionsprogramm betreibt.

Spielen, in die Schule gehen, der Mutter bei ihren Näharbeiten helfen – die Zwillinge Tiyan und Zahara wuchsen zusammen auf und machten alles gemeinsam. Im Alter von sieben Jahren aber liefen ihre Lebensbahnen, die bisher immer parallel gingen, plötzlich und unwiderruflich auseinander. Tiyan erkrankte an einer schweren Epilepsie, deren Ursache noch immer nicht geklärt ist. Als ihre Anfälle vorüber waren, öffnete Tiyan ihre Augen, doch sie sah nichts als Dunkelheit. Sie versuchte aufzustehen, doch ihre Arme und Beine ließen sich nicht mehr bewegen.

Da ihre Familie das Geld für eine moderne medizinische Behandlung, die wohl eine eindeutige Diagnose und eine angemessen Therapie ermöglicht hätte, nicht aufbringen konnte, kümmerte sich Tiyans Mutter, Selim, zuhause um sie.
„Ich habe geweint, geweint und geweint“, sagt Tiyan, die heute 14 Jahre alt ist. „Ich konnte nicht mehr zur Schule gehen und mit meiner Schwester spielen. Alles, was ich tun konnte, war weinen und Gott fragen: ‚Warum?‘“

Mit der Zeit kam Tiyan wieder zu Kräften und konnte mit Hilfe wieder gehen. Ihre Sehkraft gewann sie aber nicht zurück, also verbrachte sie ihre Tage in dem winzigen Zweizimmerappartement ihrer Familie und nähte Stoffe, um sich zu beschäftigen.  
„Nachdem ich so viel geweint hatte und auch voller Wut war, wollte ich unbedingt wieder zur Schule gehen“, erzählt Tiyan. „Meine Mutter war lange Zeit dagegen, weil sie nicht glaubte, dass ich es schaffen würde zu lernen. Dann erfuhr sie, dass es ganz in der Nähe eine Schule mit Programmen für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung gibt –die Sabian 1. Schließlich ließ sie mich dort hingehen.“

Seit Handicap International die Arbeit an der Sabian 1 aufgenommen hat, hat Tiyan angefangen, lesen und schreiben in der Brailleschrift zu lernen. In der 4. Klasse der integrierten Gesamtschule sitzt Abeachu Mestet, eine ausgewiesene Braille-Förderlehrerin und ebenfalls blind, neben Tiyan, um sicherzustellen, dass sie im gleichen Tempo lernt wie die anderen Schülerinnen und Schüler der Klasse. Tiyan hört ihrer Lehrerin zu, wie sie den heutigen Unterricht bespricht, dann berührt sie die in Braille verfasste Mitschrift vor ihr. Abeachu legt Tiyans Finger auf die Punktmuster und führt sie über die Seite, während Tiyan die entsprechenden Wörter lautlos mit den Lippen formt. Die Lehrerin stellt eine Frage, und die erste Hand, die hochschnellt, ist Tiyans. Sie steht auf, um die Antwort zu sagen, und als diese richtig ist, lächelt Abeachu und streicht ihr sanft über den Arm.

Wenn Tiyan auf die Toilette muss, kommen sofort zwei Schülerinnen an ihre Seite, um sie zu geleiten. Während die Mitarbeiter von Handicap International viele Schulungen mit Eltern und Lehrkräften geführt haben, um zu diskutieren, wie wichtig die Aufnahme und Förderung von Kindern mit Behinderung ist, scheinen an der Schule die Schülerinnen und Schüler ohne Behinderung ganz von sich aus zur Hilfe zu neigen. In einigen Klassen haben die Schulkinder von ihren hörgeschädigten Klassenkameradinnen und –kameraden die Gebärdensprache gelernt und wirken als Dolmetscher, wenn eine Lehrkraft diese Ausdrucksweise nicht versteht.

Auch Tyians Mutter hat an einer Schulung von Handicap International teilgenommen. Dadurch kann sie jetzt ihrer Tochter dabei helfen, mobiler und unabhängiger zu werden. Mit einem faltbaren Gehstock kann Tiyan inzwischen die kurze Strecke zum Markt zurücklegen. Zur Schule kommen, ist für Tiyan aber noch immer nicht leicht. Die Fahrt von zu Hause zur Schule in einem der örtlichen Autorikschas kostet 30 Äthiopische Birr (ca. 1,70 $). Das ist oft mehr als ihre geschiedene Mutter an einem Tag mit ihren Näharbeiten und dem Verkauf von Mangoeis am Stiel verdient. Aber Verwandte tragen einen Teil der Beförderungskosten mit, und sowohl Tiyan als auch ihre Mutter sind nun fest davon überzeugt, dass sie den Abschluss der Grundschule schafft.

Vor kurzem hat Tyian und ihre Familie Besuch von Jessica Cox erhalten, eine Amerikanerin, die ohne Arme auf die Welt kam und dennoch Pilotin und eine erfolgreiche Geschäftsfrau geworden ist. Jessica war in Äthiopien, um die Schulen zu besuchen, wo Handicap International arbeitet, und um darzulegen, wie Bildung der Schlüssel dazu sein kann, dass aus Kindern mit Behinderung selbstständige Erwachsene werden.
In der Wohnung ihrer Familie saß Tiyan auf dem Bett und war zunächst angespannt und unsicher, wie sie sich dem Gast gegenüber verhalten sollte. Über das Radio und den Fernseher der Nachbarn hatte sie viel von Jessica gehört; wie sie mit dem Flugzeug durch Äthiopien fliegt und dabei nur mit ihren Füßen steuert. Aber sie konnte es nicht nachvollziehen, weil sie die Bilder nicht gesehen hatte. Tiyan wirkte verlegen, bis Jessica vorschlug, dass Tiyan ihre Schultern und ihr Gesicht berühren solle, damit sie eine Ahnung davon bekommt, wie sie aussieht. Tiyan streckte ihre Arme aus und spürte Jessicas Torso, das Fehlen der Arme, und dann Jessicas Gesicht. Tiyans Verhalten änderte sich augenblicklich. Sie strahlte, lächelte und schlang ihre Arme um Jessica.

„Du hast auch eine Behinderung wie ich, aber du fliegst ein Flugzeug und reist durch die Welt“, sagt Tiyan. „Ich möchte so sein wie du!“ Tiyans Gesicht hellt sich sogar noch mehr auf, als sie Jessicas Füße berührt und Jessica schildert, wie sie alles mit ihnen macht, vom Essen zum Flugzeug fliegen. Jessica erklärt Tiyan und ihrer Mutter, wie sie durch Bildung und die Unterstützung ihrer Mutter die Möglichkeit bekam, eine erfolgreiche Erwachsene zu werden.  

„Wenn ich nicht die Möglichkeit gehabt hätte, Lesen, Schreiben und den Umgang mit anderen Kindern in der Klasse und im Sport zu lernen, dann hätte ich wohl nicht die Fähigkeiten und den Elan entwickelt, um fliegen zu lernen“, sagt Jessica. „Ich weiß, es ist sehr schwer, mit einer Behinderung aufzuwachsen, und du, Tiyan, stehst in Äthiopien dabei vor ganz anderen Herausforderungen als ich damals in den USA, aber dein Streben nach Bildung und Unabhängigkeit wird dir die Möglichkeit auf ein besseres Leben bringen.“

Weitere Informationen:

Im Juli 2012 startete Handicap International an sechs Grundschulen in den ostäthiopischen Städten Dire Dawa, Harar, Jijiga ein Inklusionspilotprojekt. Aufgrund von Stigmatisierung, unzugänglichen Schulgebäuden und des Mangels an speziell ausgebildeten Lehrkräften sowie angepassten Lernmaterialien gehen in Äthiopien weniger als 3% der Kinder mit Behinderung zur Schule. Das Ziel des Pilotprojekts von Handicap International ist es, ein Unterrichtsmodell zu erstellen, das für alle Kinder zugänglich ist und das überall im Land nachgebildet werden kann.

21 Mai 2013
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