Co-Preisträgerin Friedensnobelpreis

Asils Geschichte: Acht Monate Flucht

Asil (Pseudonym) ist gerade 55 Jahre alt geworden. Ihr Sohn und ihre Schwiegertochter sind bei ihr. Die vier kleinen Enkelkinder sitzen spielend daneben. Sie kommen aus J., einem Bezirk bei Damaskus in Syrien.

Flüchtlingscamp im Libanon

Flüchtlingscamp im Libanon | © Benoit Almeras / Handicap International

„Sie hört schlecht wegen der Bombenangriffe“, sagt ihr Sohn. „Sie ist verwirrt, sie steht unter großer Anspannung“, fügt er entschuldigend hinzu.

Asil spricht so, als würde sie sich an einen Alptraum erinnern. Manchmal bringt sie die Zeitabläufe durcheinander oder verwechselt Orte und Menschen. Sie möchte nicht fotografiert werden.

„Ich habe zu viel Angst“.

Unser Haus völlig zerstört

Die Stadt, aus der ich stamme, ist total zerstört worden. Es gab Bombenangriffe und Beschuss. Auf allen Seiten wurde gekämpft. Die Bomben kamen von überall her. Wir waren mittendrin gefangen. Überall um uns herum starben die Menschen.

Im Juni 2013, während des Ramadan, wurde unser Haus von einer Bombe zerstört.  Es war Viertel nach Eins in der Nacht. Ich hatte gerade den Koran gelesen.

Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich im Badezimmer. Dort war ich davor nicht. Die Explosion hatte alles durcheinander gebracht. Die Wände waren eingestürzt und wir wurden herumgeschleudert. Meine Haare brannten. Ich hatte viel Metall in meinem Körper. Aber ich spürte es zu diesem Zeitpunkt nicht. Ich habe nicht an den Schmerz gedacht. Ich suchte nur nach meinem Sohn.

Wo ist mein Sohn?

Zuerst konnte ich ihn nicht sehen. Wo ist mein Sohn? Ich schrie mit all meiner verbliebenen Kraft, aber ich konnte meine eigene Stimme nicht hören.

Mein Sohn war auch verletzt. Endlich sah ich ihn, einen Umriss im Staub, einen Schatten. Der Schatten meines Sohnes. Ich weinte. Sein Kopf steckte tatsächlich im Fernseher. Er muss bei der Explosion auf ihn gefallen sein. Im Nachhinein lachen alle über diese komische und absurde Szene. Ich nicht. Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Sein Kiefer war gebrochen. Die Explosion hat seinen Mund deformiert. Es war schrecklich, aber ich wusste, dass er am Leben war. Dann wurde ich ohnmächtig.

Wir waren sechs Stunden lang unter den Trümmern begraben. Dann sah ich, wie ihn die Rettungskräfte wegtrugen. Sie trugen auch mich weg. Sie brachten uns zu einer Apotheke. Dort gab es kaum etwas, aber dort gab es Erste Hilfe. Ich fiel immer wieder in Ohnmacht.

Als ich dort aufwachte, stand ich unter Schock und war völlig verwirrt. Ich vergaß, dass meine anderen Kinder zum Zeitpunkt des Bombenangriffs nicht bei mir gewesen waren. Also fragte ich nach meinen Kindern. Ich bat Leute, zu unserem Wohnhaus zurück zu gehen und nach meinen Kindern zu suchen. Sie haben es getan. Ich habe diese Menschen in große Gefahr gebracht, weil ich vergessen hatte, dass meine Kinder in Sicherheit waren.

Mangel im Krankenhaus

Dann verlegten sie mich an einen anderen Ort, an dem ich operiert werden konnte. Es war ein Feldlazarett in einem Keller.

In der Zwischenzeit kamen Ärzte, um meinen Sohn zu untersuchen. Sie sagten, dass er einen Ultraschall brauche, sie aber sie nicht die nötige Ausrüstung hätten. Sie nähten einfach seine Wunden, ohne die Splitter darin zu entfernen. Es ist nicht ihre Schuld. Sie hatten keine Ausrüstung und dort waren viele verletzte Menschen.

Sie sagten, er würde innerlich bluten. Ich hörte zufällig mit, wie sie sagten: „Er wird sterben, aber langsam“. Es gab nichts, was sie tun konnten. Sie brachten ihn zurück zu seiner Frau. Sie weinte. Die Kinder weinten.

Ein Wunder geschah

Dann geschah etwas Unglaubliches. Zwei Männer kamen ins Haus. Sie sagten, sie könnten helfen. Sie wollten nichts dafür. Sie waren Krankenpfleger, die die Nähte öffneten, die Wunden säuberten und alle Splitter entfernten, die sie erreichen konnten. All dies geschah ohne Betäubung. Seine Frau erinnert sich, dass er so laut schrie, dass die Menschen ihn bis in das nächste Viertel hören konnten. 15 Tage lang kamen die Krankenpfleger häufig, um die Wunden zu säubern und sie Stück für Stück wieder zu nähen.

Damals war die Straße nach Damaskus noch geöffnet. Aber es war sehr gefährlich und die ganze Zeit fielen Bomben. Besonders für Männer war es gefährlich. Frauen hingegen konnten die feindliche Linie überqueren. Also wechselten sich seine Frau, die weiblichen Familienangehörigen und Freundinnen damit ab, den Weg auf sich zu nehmen. Sie kauften Serum, Schmerzmittel, Cremes und Salben – was auch immer sie auf der anderen Seite bekommen konnten. Doch es war sehr schwierig, überhaupt an Medikamente zu gelangen.

Bomben, Granaten und Kämpfe

Ich selbst erholte mich nur langsam im Feldlazarett. Ich blieb dort etwa zwei oder drei Monate. Mein Gehör hatte ich beinahe vollständig verloren. Eines Tages erzählten mir mein Ehemann und mein Sohn, dass eine Gruppe von Leuten die Stadt verlassen und einen sicheren Ort suchen wolle. Sie wollten, dass ich und meine Tochter mitgehen. Die Situation in Z. war unerträglich geworden. Überall lauerten Gefahren. Bomben- und Granatenangriffe standen an der Tagesordnung. Und die Kämpfe gingen unentwegt weiter.

Die Frau meines Sohnes und ihre Kinder zogen in eine Gegend, die als etwas sicherer galt. Aber eines Tages traf eine Granate ihr Wohngebäude und der Balkon fiel herab. Ein anderes Mal wurde das vierte Stockwerk getroffen und vollständig zerstört. Da war ein großes Loch im Haus. Ein weiteres Mal wurden drei der Kinder nach einem Bombenangriff vermisst. Zwei davon fand man unmittelbar danach. Sie irrten im Gebäude umher. Aber es dauerte zwei Tage, bis sie das dritte Kind fanden.

Doch all das war noch gar nichts im Vergleich zu dem schlimmen Elend, das uns noch bevorstand.

Das Ziel heißt Sicherheit

Ganze acht Monate lang lebten wir auf der Flucht, immer auf der Flucht. Wir hatten kein Zuhause mehr. Wir hatten unsere Familie nicht mehr um uns herum. Wir hatten keinen Ort, an den wir gehen konnten. Wir waren zwei Frauen, völlig allein. Wir waren uns selbst überlassen, schliefen auf der Straße oder bei völlig Fremden – wo auch immer wir Unterschlupf finden konnten. Wir mussten betteln. Ich war verletzt und sehr krank.

Wir zogen immer weiter, weil uns die Leute sagten, dass wir gehen sollen. Kein Zuhause zu haben, war für mich ein so erschreckendes Gefühl. Ich fühlte mich verloren. Dein Zuhause ist deine Würde. Zuhause ist, wo deine Familie ist. Unterwegs habe ich oft gedacht, dass ich nicht hätte gehen sollen. Selbst wenn ich nur in einem Zelt neben meinem zerstörten Haus gelebt hätte. Wir hatten kein Ziel. Damaskus, wo wir als erstes hingingen, war nicht unser Ziel. Der Libanon, wo wir schließlich landeten, war auch nicht unser Ziel.

Das Ziel war Sicherheit. Das war das einzige, was wir suchten, aber wir wussten nicht, wo. Ich habe es nicht gefunden. An all diesen Orten hatte ich nie das Gefühl, angekommen zu sein. Meine Familie war nicht da. Sicherheit gab es nirgendwo.

Leben im Libanon

Als wir im Libanon ankamen, versuchten wir, meinem Sohn und meinem Ehemann zu helfen. Wir schickten ihnen alles Geld, das wir auftreiben konnten. Es war nicht viel, vielleicht jedes Mal 25 Dollar. Aber sie konnten damit zumindest Brot kaufen. Im September 2016 kamen mein Sohn und seine Familie endlich nach. Sie steckten noch einen Monat lang an der Grenze fest, weil sie keine Papiere hatten.

Die Kinder haben die ganze Zeit Angst. Wenn irgendwo eine Tür zuschlägt, springen sie auf. Sie machen jede Nacht ins Bett. Wir wollen nur in Sicherheit und Frieden leben. Uns sicher fühlen. Alles was wir wollen ist, dass die Kinder in Sicherheit sind. Und ein wenig Essen auf dem Tisch. Das ist alles, was wir brauchen.

Sie schaut zu einer ihrer Enkeltöchter hinüber. Ein lächelndes kleines Mädchen.

„Sie hat Splitter in ihrem Kopf und Metallteile in ihrem Körper“, sagt sie.

Jede Stimme zählt! Helfen Sie uns bei unserem Engagement gegen die Bombardierung der Zivilbevölkerung und unterzeichnen Sie unsere Petition STOP! Bombing Civilians!

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