Co-Preisträger Friedensnobelpreis

Bosnien-Herzegowina: Ein Reisebericht

Inklusion Öffentlichkeitsarbeit Rechte von Menschen mit Behinderung
Deutschland

Mitte 2012 besuchte unsere Pressereferentin Eva Maria Fischer gemeinsam mit Tim Neshitov von der Süddeutschen Zeitung unsere Projekte und Partnerorganisationen in Bosnien.

Auf der kleinen sonnigen Terrasse spendet ein Weinstock etwas Schatten. Der Blick geht hinunter ins Tal über bewaldete Hügel. Die Landschaft lädt ein zum Spazierengehen, die Wälder sehen aus wie zuhause in Deutschland. Und auch Hanife erinnert mich an meine Tochter daheim. Sie wirkt freundlich und aufgeschlossen, erzählt bereitwillig von sich und ihren Träumen, davon, eines Tages ganz wo anders zu wohnen, irgendwo, wo es keine Hügel und keine Wälder gibt. Zumindest nicht solche...
Neben Hanife sitzt ihr Vater Salih. Er ist Mitte 50, wirkt aber älter und sehr müde, als er vom 29. November letzten Jahres erzählt, dem Tag, an dem er mit seiner Frau Šaza wie so oft in den Wald ging, um Holz, Beeren oder Metallschrott zu sammeln. Sie sammelten, um zu leben. Bis zu jenem Dienstag, bis zu jenem falschen Tritt seiner Frau. Sie starb neben ihm, er überlebte mit seinen Verletzungen an Körper und Seele. „Ich wünsche mir so oft, dass ich gestorben wäre statt ihr.“ Außer Šaza gab es an diesem schwarzen Tag noch zwei weitere Tote durch Minen in Bosnien.

Hanife lächelt und zeigt ein vergilbtes Bild der Mutter. Acht Kinder hatte sie noch aus ihrer ersten Ehe. Ihr erster Mann war im Krieg gestorben. Sie zog zu Salih, dessen Haus nach dem Krieg neu aufgebaut worden war – mit Unterstützung der deutschen Regierung. So steht es auf einem Schild neben der Tür. Die Kampflinie war direkt neben dem Haus verlaufen. Der Krieg ging vorbei, die Minen blieben. Die Leute im Dorf wussten das schon bald - nachdem die ersten Unfälle passiert waren. Aber als niemand die Minen wegräumte, gingen sie wieder in den Wald. Wovon sollten sie sonst leben?

Unterstützung erhielten Salih und Hanife erst nach dem Unfall. Ein wenig Entschädigung kommt vom Staat. Und ein Fernsehbericht über den Witwer und seine Tochter brachte einige mitleidige Menschen dazu, den Schulbus und einen Computer für Hanife zu bezahlen. So erfuhr auch Zoran von den beiden. Zoran arbeitet bei der LSI, in der sich die bosnischen Selbsthilfeorganisationen von Minenopfern zusammengeschlossen haben. Das Netzwerk wurde lange Jahre auch von Handicap International unterstützt. LSI besorgte Brennholz für Salih - und vor allem einige Ziegen, damit er nicht mehr in den Wald gehen musste.

7.981 Menschen wurden seit Anfang des Krieges vor 20 Jahren in Bosnien-Herzegowina von Minen und Blindgängern verletzt oder getötet. Im letzten Jahr sogar wieder mehr als in den Jahren zuvor. Die meisten Unfälle passieren in Gebieten, die als vermint markiert sind, vor allem in Wäldern. Aber wenn diese über Jahre nicht geräumt werden, wollen oder können die Menschen irgendwann nicht mehr warten. Viele Wälder sind privat, und die Besitzenden verlangen Geld von den Holzsammlern, verminte Wälder sind am günstigsten... So erzählt es auch Razija Alji?. Schon kurz nach dem Krieg hat sie ihren 19-jährigen Sohn Nedzad im zwei Kilometer entfernten Wald beim Holzsammeln verloren. Seither wissen die Menschen im Ort, dass es dort Minen gibt. Dennoch ging ihr Mann immer wieder in den Wald – und starb nur zwei Jahre nach seinem Sohn. Ihren jüngsten Sohn Yusuf wollte die Mutter vom Wald fernhalten. Wenn das Geld fehlte, sollte er lieber mit seiner Frau und seinen Kindern im Haus eines weiteren Bruders wohnen, doch Yusuf wollte der Familie ein eigenes Heim bieten, nahm einen Kredit auf und brauchte Geld, um ihn abzuzahlen… Die Explosion war bis zum Haus zu hören. Neben Yusuf starb der Bruder seiner Frau Fadila. Sie wohnt nun allein mit den beiden Kindern in dem Haus, das Yusuf gebaut hat.  

Die Geschichten dieser Familien erschüttern – und zeigen, wie präsent für die Menschen in Bosnien-Herzegowina der Krieg noch ist. Immer wieder leuchten die roten Schilder „Danger Mines" am Wegrand. Es muss noch viel geschehen – aber es wurde auch schon viel erreicht. Die Programmleiterin von Handicap International mit dem klangvollen Namen Almedina Music berichtet von den vielen Dörfern, in denen unsere Teams und die von uns ausgebildeten Partnerorganisationen Minen geräumt haben, lange Jahre mit Unterstützung des deutschen Auswärtigen Amts. An diesen Orten können die Menschen ohne Gefahr auf Feldern und in Wäldern arbeiten. Handicap International achtete dabei immer darauf, die Bewohnerinnen und Bewohner der Dörfer mit einzubeziehen, zu erfahren, welche Flächen sie gebrauchen wollen und später auch Initiativen zur Nutzung dieser Flächen zu unterstützten. Dort, wo die Entminungsteams noch nicht für Sicherheit sorgen konnten, helfen wir auch dabei, den Menschen gefahrlose Alternativen zum Broterwerb zu bieten. So hat z.B. unsere Partnergruppe “Motiv“ in Gradovac mit Unterstützung von Handicap International eine Maschine gekauft zur schnellen Trocknung von Pflaumen und Kräutern, die gut zu verkaufen sind. Die Maschine wird von zehn Bauern eines Dorfes genutzt wird und verbraucht bewusst wenig Holz, um die Menschen vom gefährlichen Wald abzuhalten.

Doch an der Räumung geht kein Weg vorbei. Nach dem Ottawa-Vertrag über ein Verbot von Anti-Personen-Minen hätte Bosnien-Herzegowina bereits 2009 minenfrei sein sollen. Die Regierung hat um 10 Jahre Verlängerung gebeten. Aber auch um das Ziel 2019 zu erreichen, sind etwa 40 Mio. Euro jährlich nötig. Gleichzeitig wird die finanzielle Unterstützung von außen immer weniger. Dabei gibt es inzwischen genügend ausgebildete Fachkräfte für Minenräumung im Land, die nun vor allem die Mittel brauchen. Handicap International selbst wird Ende 2012 sein Büro in Bosnien-Herzegowina schließen, nachdem wir in langen Jahren geholfen haben, lokale Strukturen und Partnergruppen in der Entminung, Opferhilfe und Minenaufklärung aufzubauen. Den Entminungsteams haben unsere Fachleute ihre hohen Sicherheitsstandards vermittelt: dazu gehören die gute Ausbildung und Schutzkleidung, regelmäßige Pausen, gegenseitige Beobachtung und die Krankenschwester, die jedes Team begleitet.

49 Minenräumer- und räumerinnen sind in den letzten Jahren in Bosnien-Herzegowina ums Leben gekommen, fast alle von ihnen in Räumungsfirmen, die keinen Wert auf solche Sicherheitsmaßnahmen legten. Es bleibt zu hoffen, dass Qualität weiter finanziert werden kann – und unsere Partner ihre lebenswichtige Arbeit auch in Zukunft fortsetzen können!

18 Oktober 2012
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