Interview mit Entwicklungsminister Dr. Gerd Müller
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), stuft die derzeitige Lage in vielen Entwicklungsländern als dramatisch ein. Im Interview mit HI warnt Müller davor, dass an den Folgen der Corona-Pandemie in Afrika mehr Menschen sterben werden als am Virus selbst.

Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Dr. Gerd Müller | © Janine Schmitz/photothek.net
Handicap International (HI): Angesichts der Corona-Pandemie ist die Situation für Arme und Benachteiligte besonders schwierig. Rücklagen sind aufgebraucht, Jobs durch die Einschränkungen oftmals verloren, Menschen mit Behinderung sind vielerorts besonders betroffen. Im Irak ist die Lage so dramatisch, dass Handicap International derzeit mit Mitteln aus dem BMZ-Corona-Sofortprogramm neben Rehabilitationsmaßnahmen und psychologischer Hilfe auch Lebensmittel verteilt und finanzielle Unterstützung leistet. Inwiefern muss das Corona-Sofortprogramm verlängert und aufgestockt werden, um trotz der nun längerfristigen Pandemie die Grundversorgung der Schutzbedürftigsten zu gewährleisten?
Minister Dr. Gerd Müller: Das ist leider absolut notwendig. Die Lage ist in vielen Entwicklungsländern dramatisch. 130 Millionen Menschen werden weltweit in Hunger und extreme Armut zurückgeworfen. Versorgungsketten sind zusammengebrochen. Wir müssen davon ausgehen, dass 300 Millionen Afrikaner ihren Job verloren haben, vor allem Wanderarbeiter. Wo Essen verfügbar ist, fehlt mehr und mehr Menschen das Geld, es zu kaufen. An diesen Folgen der Krise sterben mehr Menschen als am Virus selbst. Deswegen werden wir das Corona-Sofortprogramm 2021 weiterführen, um Ernährung und Arbeitsplätze zu sichern und eine Impfkampagne in Entwicklungsländern aufzubauen.
Dank an die Engagierten
HI: Unsere Teams haben viele Projekte angepasst, so ist es derzeit besonders wichtig, die Menschen mit Behinderung über das Virus aufzuklären……
Müller: An dieser Stelle möchte ich mich bei den vielen haupt- und ehrenamtlichen Helfern von Handicap International bedanken. Dank ihres großen Engagements und das anderer Organisationen erhalten Menschen mit Hör-, Seh- oder anderen Beeinträchtigungen Informationen zur Pandemie zum Beispiel durch Radioprogramme, leichte Sprache, Piktogramme oder durch Gebärdensprache im Fernsehen. Das ist überlebenswichtig!
Die Aufklärungsboxen von HI zum Thema Covid-19 helfen Menschen mit Behinderung das Virus und die Präventionsmaßnahmen besser zu verstehen. © Adrienne Surprenant / HI
HI: Der Teufelskreis aus Behinderung und Armut muss durchbrochen werden. Welchen Ansatz verfolgen Sie in der deutschen Entwicklungspolitik?
Müller: Mitarbeiter von Handicap International leisten auch jenseits der Pandemie unglaublich wichtige Arbeit in über 60 Ländern: sie räumen Minen weg, klären über Gefahren auf, unterstützen Minenopfer und bilden Physiotherapeuten und Orthopädie-Techniker vor Ort aus. Sie unterstützen zudem Organisationen von Menschen mit Behinderungen, oder fördern Schulen zur inklusiven Bildung. Das hilft enorm, Barrieren abzubauen und die Behindertenrechtskonvention ganz konkret umzusetzen. Diesen Ansatz verfolgen wir auch mit der deutschen Entwicklungspolitik: Menschen vor Ort ausbilden und dabei benachteiligte Menschen nicht zurück zu lassen. Das schafft Arbeitsplätze und Zukunftsperspektiven in der Heimat und ist gleichermaßen gelebte Inklusion.
Inklusion als Verpflichtung
HI: Wir freuen uns, dass das BMZ eine Inklusionsstrategie erarbeitet hat und dass wir aus unserer fachlichen Expertise dazu beitragen konnten. Welche Schritte planen Sie nun für die Umsetzung und welche Rolle spielen NGOs dabei?
Müller: Nichtregierungsorganisationen sind unverzichtbare Partner. Sie sind nah an den schutzbedürftigsten Menschen und sie kennen die Herausforderungen vor Ort am besten. Deshalb haben wir bei der Erarbeitung der Inklusionsstrategie eng mit der Zivilgesellschaft zusammengearbeitet. Im nächsten Schritt werden wir die Inklusion von Menschen mit Behinderungen verstärkt als Querschnittsaufgabe in unseren Entwicklungsprogrammen verankern. Bei der Umsetzung beteiligen wir ganz gezielt Expertinnen und Experten mit Behinderungen. In Zukunft wird die Inklusion von Menschen mit Behinderungen dann eine durchgängige Verpflichtung für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit. Ich freue mich, dass wir hierzu auch weiterhin eng mit Nichtregierungsorganisationen wie Handicap International zusammenarbeiten.