Katastrophen-Vorsorge und Orthopädie
Sechs Jahre nach dem Erdbeben in Haiti engagieren wir uns langfristig an der Seite der Schutzbedürftigsten.
Nach dem Erdbeben musste dem damals vierjährigen Moise ein Bein amputiert werden. | © P.M. Jean/Handicap International
Am 12. Januar 2010 verwüstete ein Erdbeben Haiti. Über 230.000 Menschen starben, mehr als 300.000 wurden verletzt. Unsere Teams waren bereits vor der Katastrophe vor Ort – und in der Folge starteten wir die größte Hilfsaktion in unserer Geschichte. Zeitweise arbeiteten mehr als 600 Menschen für uns. Wir wollten es aber nicht bei der Nothilfe belassen und beschlossen deshalb, den Menschen auf Haiti langfristig zur Seite zu stehen: Wir fördern seitdem die Ausbildung von Rehabilitations-Fachkräften, bereiten die Menschen auf zukünftige Katastrophen vor und unterstützen Menschen mit Behinderung in verschiedenen Bereichen.
Interview mit Nathalie Derrien, Leiterin des Haiti-Programms von Handicap International
Welches sind aktuell die Schwerpunkte von Handicap International in Haiti?
Wir befinden uns gerade in der sogenannten Übergangsphase. Sie markiert den Übergang zwischen der Nothilfe direkt nach dem Erdbeben und den langfristigen Entwicklungsprojekten.
Vor dem Erdbeben gab es in Haiti nur 13 Fachkräfte für Rehabilitation. Der Handlungsbedarf war enorm und so haben wir ein Ausbildungsprogramm ins Leben gerufen: Im August 2015 hatten wir allen Grund zu feiern: 72 neue Rehabilitationstechnikerinnen und -techniker (in den Bereichen Orthopädie und Physiotherapie) beendeten ihre Ausbildung. Eine echte Prämiere in Haiti. Weitere Schwerpunkte unserer Arbeit sind der Schutz von Kindern, die soziale und ökonomische Inklusion von Menschen mit Behinderung und die die Katastrophenvorsorge.
Was unternimmt Handicap International gegen die Risiken, die von Naturkatastrophen ausgehen?
In Haiti kommt es immer wieder zu verheerenden Hurrikanen. Diese Stürme sind vorhersehbar – und deshalb ist es besonders wichtig, dass die Bevölkerung weiß, wie man sich schützt. Wir informieren die Menschen, klären auf und engagieren uns konkret. Insbesondere haben wir neun Gebiete allgemein auf mögliche Katastrophen vorbereitet und zusätzlich 224 der schutzbedürftigsten Familien spezifisch unterstützt. Familien, in denen Menschen mit Behinderung oder ältere Menschen leben, benötigen ein besonderes Knowhow und besondere Maßnahmen.
Parallel dazu arbeiten wir mit den Behörden, dem Katastrophenschutz und anderen Organisationen zusammen, um sicherzustellen, dass die Schutzbedürftigsten nicht von den Plänen zur Katastrophenvorsorge und den anschließenden Hilfsmaßnahmen ausgeschlossen werden.
Ist das Erdbeben nach sechs Jahren noch in den Köpfen der Menschen?
Ja. Viele Familien haben Angehörige verloren. Die Bevölkerung spürt die Auswirkungen der Katastrophe nach wie vor. Unzählige Menschen verloren damals ihr Haus – und viele von ihnen leben heute immer noch in Lagern. Und Tausende verloren durch das Erdbeben Gliedmaßen und sind heute auf Prothesen angewiesen. Mit guter Betreuung können diese Menschen heute wieder ein aufrechtes Leben führen.
Einer von ihnen ist der zehnjährige Moïse, dem damals ein Bein aputiert werden musste. Heute strotz er vor Energie, möchte Ingenieur werden und spielt dank der Prothese von Handicap International mit seinen Freunden, als wäre nichts passiert. Erst kürzlich hat er wieder eine neue Prothese erhalten.