Ruanda: Die Würde der Witwen des Völkermords
Handicap International hilft den Frauen, die durch den Völkermord an den Tutsi zu Witwen wurden, ihr Leben wieder aufzubauen - und ihre Würde zurückzugewinnen. Diese Frauen nehmen - oftmals zum ersten Mal in zwanzig Jahren – an Gruppentherapiesitzungen teil und profitieren von individueller psychologischer Betreuung, die ihnen hilft, den Weg von Angst und Einsamkeit zu Würde und Unabhängigkeit zu bewältigen.
Witwen des Völkermords | Wendy Huyghe / Handicap International
In einem schwach beleuchteten Raum in Gihango, einem Ort im westruandischen Bezirk Rutsiro nahe der kongolesischen Grenze, sitzen etwa 30 Frauen. Grollender Donner und das Prasseln der Regentropfen auf das Hausdach machen es ihnen schwer, einander zuzuhören. Also reichen sie ein farbiges Textil herum, das von ihrem Kollektiv Abahozanya bedruckt wurde. Sie planen, es auf dem Markt zu verkaufen. Als der Regen nachlässt, setzen sich die Frauen hin und beginnen, ruhig miteinander zu sprechen.
Diese scheinbar gewöhnliche Szene wird wesentlich weniger gewöhnlich, wenn man bedenkt, dass alle diese Frauen ihre Männer und oft auch ihre Kinder während des Tutsi-Völkermords vor zwanzig Jahren verloren haben. Neben den nicht sofort sichtbaren mentalen Verletzungen zeigen viele von ihnen körperliche Nachwirkungen von den Misshandlungen, die sie erlitten haben. Wenn man außerdem weiß, wie wichtig diese Treffen für die Frauen sind, wird die Szene sogar noch außergewöhnlicher: Hier ist oftmals der einzige Platz, an dem sie über ihre Erfahrungen sprechen können.
Es war Victorine, 58, die die Initiative ergriff und 2004 diese Gruppe gründete. „Ich lernte zufällig eine Frau kennen, die in der gleichen Situation war wie ich: auch sie wurde durch den Völkermord zur Witwe und wie ich lebte sie alleine und hatte niemanden, der sich um sie kümmerte. Sie war die erste Person, mit der ich über das redete, was mir 10 Jahre zuvor passiert war. Wir erkannten, dass wahrscheinlich viele Frauen in der gleichen Situation waren; und so kamen wir auf die Idee, diese Treffen zu organisieren.“
Es gibt ein gewaltiges Bedürfnis, sich mit Menschen zu treffen, die das gleiche durchgemacht haben. Jede Frau erzählt uns, wie einsam sie ohne diese Treffen wäre. Sie sind stigmatisiert, und manchmal macht sich die eigene Bekanntschaft lustig über sie. „Vielleicht weil sie sich schämen oder weil sie Gewissensbisse haben. Aber es stimmt, dass die Menschen nicht über die Vergangenheit reden wollen, obwohl jeder hier weiß, was mir passiert ist“, sagt Victorine. „Manche wagen es wirklich, uns zu kritisieren“, fügt eine andere Frau sanft hinzu. „Sie sagen: Dein Mann wurde getötet, und manche deiner Kinder wurden getötet. Aber du bist immer noch am Leben und hast nichts unternommen, um sie zu schützen. Aber ich sage mir die ganze Zeit: wenn ich etwas hätte tun können, um an ihrer Stelle zu sein, hätte ich es getan."
Seitdem Handicap International angefangen hat, die Gruppe mit psychologischer Hilfe zu unterstützen, sind diese Veranstaltungen für die Frauen mehr als bloße Treffen. Ein Psychologe von Handicap International und ein Sozialarbeiter des ruandischen Partners APESEC - eine Organisation, die sich um ein sicheres Umfeld für Waisen und andere schutzbedürftige Personen in Kivumu kümmert - begleiten die Sitzungen und führen die Gespräche so, dass langsam eine Akzeptanz der Vergangenheit entsteht. „Dank dieser Unterstützung, haben wir verstanden, was vor all diesen Jahren mit uns passiert ist. Jetzt können wir allmählich lernen, damit zu leben“, sagt sie.
„Wir nennen diese Treffen Mitteilungsgruppen“, erklärt Marie Gaudaence, die Psychologin von Handciap International. „Die Gruppe redet über Alltagsprobleme, aber für uns ist es eine ideale Gelegenheit, die am meisten beeinträchtigten oder gar traumatisierten Frauen zu identifizieren, um ihnen so die Hilfe zu geben, die ihren spezifischen Bedürfnissen entspricht. Die Hilfe lassen wir ihnen in den Diskussionsgruppen zukommen; das sind kleinere Gruppen, in denen Frauen mit gleichen Problemen sitzen. Zum Beispiel tun sich viele dieser Frauen schwer, Gefühle der Zuneigung für ihre Kinder zu entwickeln, die sie aufgrund einer Vergewaltigung bekamen. Das diskutieren wir in diesen Gruppen. Denn allein die Existenz von Frauen, die sich trauen zuzugeben, dass sie diese Probleme haben, hilft. Außerdem organisieren wir persönliche Einzelgespräche für Frauen mit schweren Traumata und für solche, die noch immer nicht über das reden können, was sie durchgemacht haben.“
Heute redet die Mitteilungsgruppe über Kinder. Dancille macht sich Sorgen um ihren Sohn. „Während des Genozids war er noch ein Baby und ich musste mich oft mit ihm verstecken. Das muss ihn beeinträchtigt haben, unterbewusst, denn jetzt ist er immer sehr ängstlich,“ sagt sie.
Doch die Frauen reden während der Treffen auch über positive Entwicklungen. Eine Frau hat das erste Mal einen offiziellen Strafantrag eingereicht. „Wir leben alleine und es gibt niemanden, der uns beschützt. Deshalb kommen oft Besucher, die die Situation ausnutzen wollen, um sexuelle Gefälligkeiten zu bekommen“, sagt sie. „Wir waren zu verängstigt, um sie abzuweisen. Die Gruppe hat uns unsere Würde zurückgegeben und wir sind selbstsicher genug, um 'Nein' zu sagen. Wir wissen nun auch, wie wir dabei vorgehen müssen. Seitdem haben einige von uns die Angelegenheiten sogar vor Gericht gebracht, weil wir wissen, dass wir einen Strafantrag einreichen können. Und das macht diesen Männern Angst.“
Würde. Selbstsicherheit. Diese Wörter tauchen in ihren Gesprächen oft auf. Es war die Selbstsicherheit, die viele dieser Frauen geholfen hat, aus ihrer Isolation auszubrechen. Sie arbeiten, und sie können ihre Kinder zur Schule schicken. „Zuvor war ich passiv. Ich bettelte nur auf der Straße. Jetzt züchte ich Ananas und verkaufe sie.“ Handicap International gab den Frauen eine Anfangsfinanzierung, um Pflanzen zu züchten und um Stoffe zu bedrucken und zu verkaufen. Mit den Gewinnen wird Mitgliedern der Gruppe geholfen, die gerade eine schwere Zeit durchmachen. Was auch immer sie durchleben, sie können sich auf die Unterstützung der anderen Frauen verlassen. Obwohl sie nicht in denselben Nachbarschaften leben, helfen sie sich von Zeit zu Zeit aus. Das gilt vor allem für die ältesten Frauen und solche mit körperlichen Problemen. Sie bekommen Hilfe bei der Ernte oder bei Arbeiten rund um das Haus. „Wir helfen einander aus und schützen uns gegenseitig“, sagt Victorine. „Das macht uns stark.“
Über das Programm 'Mentale Gesundheit'
Ziel des Projekts: Die mentale Gesundheit von schutzbedürftigen Menschen verbessern, den sozialen Zusammenhalt von Gemeinden stärken und geschlechtsspezifische und/oder sexuelle Gewalt bekämpfen.
Einsatzgebiet: Kigali und die umliegenden Regionen (4 Sektoren) und West Province (8 Sektoren).
Direkte Leistungsempfänger: 7.220 psychosozial schutzbedürftige Personen (60% Frauen und 5% mit Behinderung).
Indirekte Leistungsempfänger: 36.100 Freunde und Angehörige direkter Leistungsempfänger, 200 Experten in den Bereichen Gesundheit, Strafverfolgung, Rechtspflege und Bildung und Erziehung.
Dauer: 35 Monate. Die zweite Phase startet im Juni 2014 und wird drei Jahre dauern.
Handicap International baut die Kapazitäten von Partnerorganisationen (ruandische Partner) auf und schult Professionelle sowie lokale Freiwillige so, dass sie gefährdete Bevölkerungsgruppen oder Menschen, die psychisch Not leiden, auffinden. Wenn diese Personen identifiziert sind, organisiert Handicap International zusammen mit Partnern Diskussionsgruppen und bietet soziale Unterstützung, manchmal durch therapeutische einkommensgenerierende Tätigkeiten sowie psychologische Betreuung in individuellen Therapiesitzungen, die von eine/r Psychologen/in geleitet wird
Zu den LeistungsempfängerInnen gehören direkte Opfer des Völkermords an den Tutsis, wie beispielsweise Witwen, die ihre Familie verloren haben. Das Projekt richtet sich außerdem an Prostituierte, Waisen, die auch Familienoberhaupt sind, Frauen, die durch eine Vergewaltigung Mutter wurden, HIV-positive Frauen, Opfer von (sexueller) Gewalt, Familien, die sich als Folge von Gewalt und Alkoholmissbrauch in der Krise befinden etc. Mentale Gesundheitsprobleme, die oft aufgrund des Völkermords entstanden sind, haben ernsthafte Auswirkungen auf Gesellschaften. Ein schlechter mentaler Gesundheitszustand kann Probleme in der Beziehung und/oder der Familie, den Verlust der Arbeitsfähigkeit, eine Zunahme von hochriskantem Sexualverhalten, Gewalttaten etc. verursachen und zur Folge haben. Alle diese Faktoren erhöhen die Familienarmut, schwächen die gesellschaftliche Entwicklung und sind die Grundlage für weitere mentale Gesundheitsprobleme in der Gesellschaft.