Co-Preisträger Friedensnobelpreis

Syrien: Wie ein ehemaliges Kriegsgebiet geräumt wird

Syrien

Handicap International (HI) räumt gefährliche Blindgänger in Tabqa im Nordosten Syriens – einer Region, die während des langjährigen Konflikts Schauplatz heftiger Kämpfe war. Ziel ist es, die Gebiete wieder an Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner zu übergeben und die Felder bestellen zu können, ohne Furcht vor Blindgängern.

Im Vordergrund liegt ein metallischer Blindgänger. Dahinter stehen mehrere Männer mit Schutzanzügen in einer Reihe.

Das Räumungsteam bei der sogenannten Battle Area Clearance (BAC), einer bestimmten Technik der Kampfmittelräumung. | © HI

Tomas Dominguez, Leiter für den HI-Einsatz im Nordosten Syriens, gibt uns tiefere Einblicke:

Was braucht es, um ein Gebiet zu räumen?

Unsere Räumungsteams bestehen aus zehn Personen – darunter zwei Expert*innen für die Entschärfung und Beseitigung von Blindgängern sowie acht sogenannte „Searcher“ (Suchende). Wir nutzen manuelle Methoden und eine Technik namens Battle Area Clearance (BAC). Das ist eine spezielle Form der Räumung.
Dabei bewegt sich eine Reihe von Sucher*innen im Abstand von etwa einem Meter nebeneinander vorwärts und durchsucht den Boden – entweder nur mit den Augen oder mithilfe von Metalldetektoren.
Wichtig: Diese Technik wird nur eingesetzt, wenn versteckte Landminen ausgeschlossen werden können. 

Was wurde bisher erreicht?

Bislang haben unsere Teams 530.400 m² geräumt und 42 verdächtige Objekte zerstört – die meisten davon sogenannte Submunitionen von Streubomben.
In Tabqa umfasst das aktuelle Räumungsgebiet etwa drei Millionen Quadratmeter. Die Arbeiten haben wir im Oktober 2024 begonnen und sollen bis Mai 2026 abgeschlossen sein – also innerhalb von etwa 200 Tagen.

Wo genau findet die Räumung statt?

Es handelt sich um ein landwirtschaftliches Gebiet am Rand von Dörfern, wo vor dem Konflikt Weizen und Gerste angebaut wurde. Aktuell ist das Gelände verlassen und aufgrund der gefährlichen Blindgänger unzugänglich. Das Gebiet liegt in der Nähe des Flugfelds von Tabqa.

Warum wurde gerade dieses Gebiet ausgewählt?

Zivilist*innen hatten von Blindgängern berichtet, zudem kam es zu Unfällen mit Menschen und Nutztieren.
Ein HI-Team wurde dorthin geschickt, um die Situation zu bewerten. Parallel führten wir Gefahrenaufklärungen in den umliegenden Gemeinden durch – also Schulungen über die Gefahren und den sicheren Umgang mit verdächtigen Gegenständen. Anschließend begannen die Räumungsarbeiten vor Ort.

Ist dieses Gebiet besonders wichtig?

Ja, das Gelände gilt als hoch prioritäres Räumungsgebiet, da es regelmäßig Meldungen über verdächtige Objekte gibt – zudem liegt es in der Nähe bewohnter Orte. Nach einer Gefährdungsanalyse, die vorhandene Submunition bestätigte, wurde der Einsatz offiziell gestartet.

Gibt es Karten über die verseuchten Gebiete?

Nein, es existieren keine offiziellen Karten. Das Flugfeld von Tabqa war ein strategisch wichtiger Militärstützpunkt und deshalb Schauplatz heftiger Kämpfe. HI hat die kontaminierten Flächen selbst kartiert und dokumentiert den Fortschritt täglich mit Google Earth in einer internen Datenbank.

Welche Herausforderungen gibt es?

Die erste Herausforderung war die Zugänglichkeit des Einsatzortes: Die Strecke von unserer Basis in Rakka bis Tabqa beträgt 62 Kilometer – die Fahrt dauert etwa 1 Stunde und 15 Minuten pro Strecke. Das erschwert den Transport von Personal und Ausrüstung erheblich.
Zudem erfordert die große Fläche eine detaillierte Planung und technische Voruntersuchung, damit keine gefährlichen Objekte übersehen werden. Die gefundenen Blindgänger mussten vor Ort zerstört werden – ein zusätzlicher Sicherheitsaufwand.

Wer profitiert von der Räumung?

Rund 1.200 Menschen leben in der unmittelbaren Umgebung und sind auf die landwirtschaftliche Nutzung angewiesen – entweder zum Anbau oder zur Tierhaltung.
Insgesamt kehren derzeit etwa 64.000 Menschen in die Region Rakka zurück. In Tabqa helfen wir Menschen aller Altersgruppen, darunter auch Bauernfamilien und Hirten aus benachbarten Dörfern.

Wie werden die Menschen vor Ort informiert?

Unsere Teams halten engen Kontakt zu Dorfältesten und wichtigen lokalen Entscheidungsträger*innen.
Zudem führen wir Gefahrenaufklärungen durch, während und nach der Räumung, um Mädchen, Jungen, Frauen und Männer für die Gefahr von Blindgängern zu sensibilisieren.
Ziel ist es Mensch, Tier und Umwelt zu schützen.
Seit Juli 2024 fanden in Tabqa bereits Schulungen mit 450 Teilnehmenden statt – darunter 180 Frauen und 130 Kinder.

Wie läuft die Übergabe des geräumten Landes ab?

Nach Abschluss der Räumung erfolgt eine offizielle Freigabe: Das Land wird den örtlichen Behörden übergeben, die es dann an die jeweiligen Eigentümer oder Bewohner*innen weitergeben.

HI – Maßnahmen zur Reduzierung von Waffengewalt in Syrien

Handicap International ist seit 2012 in Syrien aktiv – mit einem Schwerpunkt auf humanitärer Minenaktion, darunter versteht man:

  • Räumung von Blindgängern
  • Gefahrenaufklärung
  • Nicht-technische Erkundung (NTS) (z.?B. durch Interviews und Beobachtung, um gefährliche Gebiete zu identifizieren)
  • Unterstützung für Überlebende von Unfällen mit Minen und Blindgängern
  • Politische Arbeit / Advocacy

 

HI arbeitet eng mit den betroffenen Gemeinschaften zusammen, um sichere, widerstandsfähige und inklusive Lebensräume zu schaffen.

 

Das Auswärtige Amt unterstützt Entminungsprojekte in Syrien.


Logo des Auswärtigen Amts für Humanitäre Hilfe

5 Juni 2025
Einsatz weltweit:
Helfen
Sie mit

Lesen sie weiter

Syrien: Mit Prothese geht Enas ihren Weg
© A. Rahhal / HI
Rehabilitation und Orthopädie

Syrien: Mit Prothese geht Enas ihren Weg

Ein fehlendes Bein. Ein kleines Mädchen. Und eine enge Freundschaft, die alles verändert: Enas wurde mit einer Fehlbildung geboren – in einem Land, in dem der Alltag ohnehin voller Herausforderungen ist. Doch dann trifft sie auf Physiotherapeutin Fatima. Und plötzlich beginnt Enas zu laufen. Zu rennen. Zu träumen.

Syrien: Mohammad schützt Leben durch Aufklärung
© HI
Minen und andere Waffen

Syrien: Mohammad schützt Leben durch Aufklärung

Nach einem Unfall mit einem Blindgänger verlor Mohammad seine Hand. Er wusste damals noch nicht, wie gefährlich explosive Kriegsreste sind. Heute klärt er andere über die tödlichen Risiken auf, die überall in Syrien lauern. Mit seiner Arbeit trägt er dazu bei, dass Blindgänger nicht noch mehr Opfer fordern. Besonders gefährdet sind vor allem die Menschen, die in ihre Heimat zurückkehren.

Syrien: Mohamed ist vom Krieg gezeichnet
© A. Rahhal / HI
Minen und andere Waffen Rehabilitation und Orthopädie

Syrien: Mohamed ist vom Krieg gezeichnet

Der Krieg in Syrien hat tiefe Narben hinterlassen - in den zerstörten Städten, in den Herzen der Menschen und im jungen Leben von Mohamed. Der 12-Jährige trat vor vier Jahren auf einen Blindgänger und verlor sein Bein. Doch sein Mut und die Hilfe von Handicap International ebneten ihm den Weg zurück ins Leben. Heute kann Mohamed wieder lachen, gehen und mit seinen Freunden spielen.