Co-Preisträger Friedensnobelpreis

Wie man aus alten Trümmern barrierefreie Gebäude macht

Inklusion
Palästinensische Gebiete

Erika Trabucco gehört zu den Architekten von Handicap International, die auf den Wiederaufbau und die Barrierefreiheit von Gebäuden spezialisiert sind. Über ein Jahr lang arbeitete sie nun im Gazastreifen daran, ein Krankenhaus wieder aufzubauen und öffentliche Gebäude besser für Menschen mit Behinderung zugänglich zu machen.

 

Eine Gruppe junger Ingenieurskräfte auf der Baustelle, wo barrierefreie Gebäude entstehen

Die Teilnehmenden des Workshops, der von Handicap International und der Universität von Palästina im Gazastreifen organisiert wurde. | (c) Handicap International

Wie sah es im Gazastreifen aus, als Sie angekommen sind?

Gaza war nicht vollständig zerstört, aber einige Bezirke im Süden und Osten von Gaza waren während des Konflikts im Juli 2014 erheblich beschädigt worden. Viele Gebäude waren sehr stark beschädigt, was sich immens auf die Lebensbedingungen der Menschen ausgewirkt hat. 180.000 Menschen haben ihre Häuser verlassen, um vor dem Konflikt zu fliehen; fast zwei Jahre später konnten viele Familien noch immer nicht zurückkehren.

 

Welche Aufgabe hatten Sie unter diesen Umständen?

Ich bin im März 2015 angekommen und war nun bis April 2016 vor Ort. Unser Schwerpunkt lag darauf, dass die Zugänglichkeit der wesentlichen Infrastrukturen wiederhergestellt und verbessert wird, damit die Menschen mit Behinderung im Gazastreifen sie einfacher erreichen können. So war während des Konflikts im Juli 2014 beispielsweise ein Gebäudekomplex in Gaza-Stadt, zu dem eine Schule und ein Krankenhaus gehörten, zerstört worden. In dem Krankenhaus, dessen Schwerpunkt auf der Pflege und Behandlung von Menschen mit Behinderung liegt, wurden fast 14.000 Menschen mit Behinderung behandelt. Wir wollten es vollständig wiederaufbauen. Es ist nun wieder in Betrieb.

Der andere Teil meiner Arbeit - und vielleicht der wichtigste - bestand darin, Ingenieurskräfte und Bauunternehmen zum Thema Behinderung auszubilden. Dadurch wird die Zugänglichkeit öffentlicher Gebäude und privater Häuser für Menschen mit Behinderung im Gazastreifen verbessert werden.

Was hier besonders schwierig war: Zulieferbetriebe für Baumaterialien wie Zement zu finden. Die Bauunternehmen sind stark von Importen abhängig, die extrem teuer sind, und es müssen viele Formalitäten erledigt werden, bevor ein Lieferant eine Genehmigung für die Einreise in den Gazastreifen erhält. Deshalb wollten wir die Lieferungen für den Wiederaufbau der Klinik ausschließlich vom lokalen Markt beziehen. Auch wollten wir im Kleinen erkunden, inwieweit wir  wiederaufbereitete oder wiederverwertbare Materialien erneut verwenden können, um kleine Gebäude zu errichten.

 

Welche Ressourcen waren vor Ort verfügbar?

Selbstverständlich haben wir existierende Techniken wie Mauern aus Erde oder aus Sandsäcken eingesetzt. Ich wollte auch möglichst viele Materialien wiederverwenden, die von den Gebäuden stammen, die im Konflikt zerstört worden waren.

So kann man beispielsweise Mauern wiederaufbauen, indem man Trümmer "recycelt". Wir haben auch Müll verwendet, abgenutzte Reifen, leere Plastikflaschen usw. Diese Umwelt in dieser Gegend ist häufig stark verschmutzt. Die Wiederverwendung von Müll als Baumaterial könnte die Menschen vielleicht auch dazu ermutigen, mehr zu recyceln.

 

War es schwierig, die Fachleute für die Barrierefreiheit und für die Verwendung von recycelten Baustoffen zu sensibilisieren?

Wir haben den Bauunternehmen Informationen über die Vorschriften zum Bau und zur Barrierefreiheit bereitgestellt, die im palästinensischen Gesetz über die Rechte von Menschen mit Behinderung von 1999 genannt sind. Dieses Gesetz wird leider in der Praxis selten beachtet, aber die Fachleute, die wir ausgebildet haben, waren sehr an diesem Thema interessiert. Ich bin optimistisch, dass sie sich in Zukunft mehr anstrengen werden, um die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung zu berücksichtigen.

Wir haben auch einen Schritt in Richtung Zukunft gemacht und die Ingenieurskräfte von morgen mit einbezogen. Handicap International hat einen Workshop für 70 Studierende des Bauingenieurwesens der Universität von Palästina veranstaltet. Daran nahmen genauso viele weibliche wie männliche Studierende teil. Wir haben sie für die Vorschriften zur Barrierefreiheit geschult und sie dabei Trümmer und recycelte Produkte verwenden lassen. Sie haben dann einen Musterpavillon gebaut, der beweist, dass auch in Gaza verschiedene Techniken verwendet werden können und wie Barrierefreiheit mit einem kleinen Budget und mit begrenzten Mitteln umsetzbar ist.

 

Welche positiven Auswirkungen hatte diese Initiative?

Barrierefreiheit steht bei den Bauunternehmen im Gazastreifen eindeutig nicht im Mittelpunkt. Ich denke, dass wir aber Verbesserungen herbeiführen können, indem wir die gegenwärtigen und zukünftigen Ingenieurskräfte sensibilisieren. Der Workshop hat einen äußerst positiven Einfluss auf die Studierenden gehabt.

Was die Arbeitsweisen anbelangt, so führt das Recycling von Müll und Trümmern bei Bauprojekten dazu, dass die Menschen kostengünstiger bauen können. Das ist bei kleinen Gebäuden eine der besten Lösungen, die ich kenne. Als Teil dieses Projekts hat Handicap International beispielsweise einen barrierefreien Spielplatz in einer Schule speziell für Kinder mit Behinderung in Rafah, im Süden des Gazastreifens, gebaut.

Angesichts der Situation in Gaza könnte dies den Menschen helfen, leichter und auch schneller an Baumaterialien zu gelangen. Vor allem für mittellose Menschen wäre das wichtig. Das erhöht ihr eigenes Reaktionsvermögen: Sie könnten kleine Gebäude selbst bauen oder wiederaufbauen, ohne allzu viele Baumaterialien kaufen und fremde Dienstleistungen in Anspruch nehmen zu müssen.

Schließlich habe ich in beruflicher Hinsicht viel aus dieser Erfahrung im Gazastreifen gelernt. Wir sollten in der Lage sein, diese Baumethoden auch in anderen Regionen anzuwenden, beispielsweise in Ländern, die von Naturkatastrophen betroffen sind.

 


 

Projektdetails

Der Einsatz von Erika Trabucco war Teil eines Pilotprojekts: „Einsatz nach Notfällen und frühzeitiger Wiederaufbau, um den Zugang zu den wesentlicher Versorgung im Gazastreifen für die besonders schutzbedürftigen Einzelpersonen und Familien zu verbessern". Dieses wird von der französischen Entwicklungsagentur (Agence Française de Développement) unterstützt. Mit dem Projekt wurde dem Krankenhaus der Gesellschaft für Menschen mit körperlicher Behinderung (Society for Physically Handicapped People, SPHP) in Gaza geholfen, das Krankenhaus wieder in Betrieb zu nehmen. Zudem schulte und unterstützte es fachlich die Ingenieurskräfte und Organisationen, die sich im Gazastreifen für die Barrierefreiheit von öffentlichen Gebäuden engagieren.

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24 Mai 2016
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